Die Erfolglosigkeit der Stürmer oder die Wiederentdeckung von Distanzschüssen sind nur zwei Aspekte der EM 2024, die Taktikexperte Tobias Escher ausgemacht hat. Er erklärt, warum für ihn moderner Fußball wie „Starbucks“ ist.
Tobias Escher ist Mitgründer der Internet-Seite Spielverlagerung.de, auf der es um zahlreiche Themen rund um die Taktik im Fußball geht. Als einer der angesehensten Experten auf diesem Gebiet schreibt er für diverse Medien.
Hier blickt er mit neun Beobachtungen auf die bisherige EM 2024 zurück – von müden Kickern über die Flut der Eigentore bis hin zu den Jungstars, die dieses Turnier geprägt haben.
Der Taktik-Experte Tobias Escher hat ein Lehrbuch veröffentlicht zum Thema Fußballtaktik unter dem Titel „Der Schlüssel zum Spiel“. Zur EM 2024 erschien sein sechstes Buch: „Die Weltmeister von Bern.“
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Die Stimmung war gut, aber das große Fußball-Spektakel blieb aus
Volle Stadien, volle Fanmeilen: Die Atmosphäre bei diesem Turnier war grandios. Der Fußball leider nicht immer. Die meisten Mannschaften agierten aus einer verstärkten Defensive heraus. Pro Spiel gab es im Durchschnitt bis zum Finale nur 2,28 Tore – gegenüber dem letzten Turnier ein Rückgang um 0,5. In beiden Halbfinals gab es jeweils nur 15 Torschüsse. Das sind sehr niedrige Werte. Ein Grund: der Turniermodus. In der Vorrunde kommen auch die besten Gruppendritten weiter, notfalls reichen dafür drei Unentschieden. Es gibt keinen Druck, gewinnen zu müssen.
In der K.o.-Runde gibt es in der Verlängerung die Option aufs Elfmeterschießen, während ein Rückstand dann nur noch schwer aufzuholen ist. Konsequenz: Risikominimierung, tief stehende Ketten, kein hohes Pressing – kein attraktiver Fußball. Topnationen wie England, Frankreich, aber auch Belgien traten zudem mit Trainern an, die immer schon die Defensive liebten. Auch die Niederlande haben vorsichtig agiert, keine Spur vom früheren Hurra-Fußball. Immerhin gab es auch die Offensiv-Fraktion: Spanien, Deutschland, teilweise die Türkei – und die Überraschungsmannschaft aus Österreich.
Die EM 2024 war das Turnier der großen Erschöpfung
Aufgeblähte Wettbewerbe, immer mehr Spiele, gerade für die Spitzenclubs – am Ende der Saison sind viele Spieler am Ende ihrer Kräfte: körperlich und mental. Und fuhren in dieser Verfassung zu einer EM. Zwischen dem Finale in der Champions League Anfang Juni und dem deutschen Eröffnungsspiel lagen keine zwei Wochen. Da kann man keine Gala-Vorstellungen mehr erwarten.
Florian Wirtz hat in der Bundesliga eine großartige Saison gespielt und auch keine schlechte EM – aber eben auch keine richtig gute. Englands Harry Kane musste im Halbfinale zehn Minuten vor Schluss trotz möglicher Verlängerung vom Platz genommen werden, weil er ausgelaugt war. Viele Begegnungen wurden zu Abnutzungs- und Zermürbungsschlachten, nicht zu Fußballfesten – auch, weil die Trainer auf die Gegebenheiten reagierten: Sicherheit statt Risiko, einfache Konzepte statt taktischer Finesse, Rückstände möglichst vermeiden.
Manndeckung ist plötzlich wieder in Mode
Jahrelang war die Manndeckung als altmodisch und unkreativ verpönt: Jedem Spieler war ein Gegenspieler zugeteilt, auf den er während des gesamten Spiels aufpassen musste. Wer als Trainer etwas auf sich hielt, wählte stattdessen die Raumdeckung, in der die Spieler jeweils für exakt definierte Zonen auf dem Spielfeld zuständig sind. Überraschend: Bei dieser EM gab es einen Retro-Trend. Deutschland spielte im Viertelfinale gegen Spanien eine Manndeckung übers ganze Feld. Die Schweiz schockte Italien im Achtelfinale mit Manndeckung und warf die „Squadra Azzurra“ aus dem Turnier. Auch das türkische Team hat sehr viele Mann-gegen-Mann-Duelle provoziert.
Bei der EM 2024 gab es die Rückkehr der eigentlich verpönten Manndeckung – wie die Italiener (hier Federico Chiesa, rechts) gegen die Schweiz (Ricardo Rodriguez) leidvoll erfahren mussten
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Die jeweiligen Gegner stellte das vor große Probleme. Wenn ich eine Manndeckung bespiele, brauche ich viel Bewegung: Es müssen immer wieder einzelne persönliche Bewacher durch Ausweich- und Ablenkungsmanöver aus dem Abwehrblock herausgelockt werden, um die so freigewordenen Räume dann blitzschnell durch Mitspieler zu besetzen. Das erfordert viel Aufwand – und könnte der Hintergedanke sein für die Renaissance der Manndeckung. Ziel: Den Gegner in einen hohen Aufwand hineintreiben am Ende einer langen, kräftezehrenden Saison.
Der moderne Fußball ist wie „Starbucks“: Es gibt viele Filialen. Aber alle sehen gleich aus
Die Globalisierung ebnet nationale Besonderheiten und kulturelle Unterschiede ein. Das gilt auch für den Fußball, zumal sehr viele Spieler inzwischen in sehr wenigen europäischen Topligen in England, Spanien, Deutschland oder Italien spielen. Nahezu jede Mannschaft hat bei dieser EM die Variante im Spielaufbau gewählt, die der spanische Trainer-Maestro Pep Guardiola gelehrt hat: mit drei Verteidigern und einem oder zwei Mittelfeldspielern davor.
Es gibt eine große Gleichförmigkeit der Ansätze – die „Starbuckisierung“ des Fußballs: unterschiedliche Filialen, aber letztlich sieht es überall gleich aus. Man kann nicht mehr wie früher auf den ersten Blick sagen: Das muss eine belgische, tschechische oder rumänische Mannschaft sein. Deutschland spielt auch keinen typisch deutschen Fußball mehr, sondern – Julian Nagelsmann sei Dank – den modernen, globalisierten Fußball, den fast alle spielen.
Die wichtigste taktische Innovation: Außenverteidiger werden zu Schlüsselspielern
Offensive Außenverteidiger gibt es schon lange, aber ihre Rolle wurde bei diesem Turnier neu definiert. Zusammen mit einem nachrückenden Mittelfeldspieler und dem jeweiligen Außenstürmer bildet der Außenverteidiger ein Dreieck, in dem es durch schnelle Passkombinationen gelingt, den Außenstürmer freizuspielen, der dann ohne Gegnerdruck präzise Flanken in den Strafraum schlagen kann. Ist die eine Angriffsseite auf diese Weise personell „überladen“, muss der Gegner reagieren und seine Leute in diese Richtung verschieben. Mit einem schnellen Diagonalpass auf die andere, dann entblößte Seite, lässt sich das Spiel wunderbar öffnen.
Oder, ebenfalls bei der EM sehr oft zu sehen: Der Außenverteidiger zieht mit dem Ball plötzlich nach innen, wodurch der Abwehrblock bewegt und zu Fehlern verleitet wird. Entweder sucht der zum Angreifer mutierte Verteidiger dann wieder seinen Außenstürmer oder er spielt einen kurzen, tödlichen Steckpass ins Abwehrzentrum oder er sucht selbst den Torabschluss von der Strafraumgrenze. Diese Variationsbreite gab es früher so nicht, als offensive Außenverteidiger meistens stur an der Außenlinie klebten. Die Spanier (mit Cucurella , Olmo und Williams) und die Engländer (mit Walker, Saka und Foden) führten dieses taktische Mittel in Perfektion vor. Beide erreichten vielleicht auch deshalb das Finale.
Der Schuss aus der Distanz wurde wiederentdeckt
In der Vorrunde war jeder fünfte Schuss ein Fernschuss außerhalb des Strafraums. Das ist deutlich mehr als in der Bundesliga, wo nur ungefähr jeder zehnte Schuss aus der Distanz abgegeben wird. Jahrelang war es in Mode, sich mit gepflegtem Kurzpass-Spiel bis in die „Box“, als nahe an das gegnerische Tor, durchzukombinieren – was Sinn macht, denn statistisch gesehen braucht es bei Fernschüssen relativ viele Versuche, bis ein Tor herausspringt. Aber in Nationalteams fehlt die Trainingszeit, die Vereinsmannschaften haben, um Automatismen einzuüben. Der Fernschuss ist ein probates Mittel, wenn es man keine anderen Lösungen im letzten Drittel vor dem gegnerischen Tor erarbeiten kann.
Hinzu kommt: Auch die Abwehrformationen sind bei einem Turnier nicht so gut eingeübt wie im Alltagsbetrieb der Liga. Typisches Beispiel: der Hammerschuss von Xavi Simons zur 1:0-Führung der Niederländer im Halbfinale gegen England. In der Bundesliga wäre sofort ein Verteidiger rausgerückt, um den Schuss zu blocken. Gegen England hatte Simons dagegen freie Bahn. Und: die kollektive Erschöpfung mag auch hier eine Rolle spielen. Wenn die Kräfte nicht mehr reichen, werden aufwändige Angriffsbemühungen im Zweifel früher durch Fernschuss abgeschlossen.
Eigentore häufen sich
Kein ganz neuer Trend, schon bei der letzten Europameisterschaft gab es eine Flut von Eigentoren. Von allen Eigentoren, die bei Europameisterschaften seit 1960 erzielt wurden, sind rund 70 Prozent allein in den letzten drei Turnieren gefallen, wobei es auch mehr Spiele pro EM gibt als früher. Warum die vielen Eigentore? Oft war folgendes zu sehen: flache oder halbhohe Flanke in den Strafraum, sehr scharf geschossen, Verteidiger orientiert sich nicht ordentlich – und der Ball landet versehentlich im eigenen im Tor.
Die Unerbittlichkeit des Fußballs, sie zeigt sich bei der EM 2024 in all ihrer Boshaftigkeit. Es ist das Turnier der Eigentore, hier traf es Tschechiens Robin Hranac gegen Portugal
© Julian Finney
Möglicherweise gehören Eigentore inzwischen zum taktischen Instrumentarium und werden gezielt provoziert. Erst spiele ich die Abwehr auseinander, dann die scharfe Hereingabe. Wenn die Abwehrspieler nicht genau wissen, ob hinter ihnen noch ein Angreifer lauert, müssen sie den Ball irgendwie klären – und das mitten in der Vorwärtsbewegung hin zum eigenen Tor. So entsteht das klassische Eigentor dieser EM. Und solche Situationen kann man auch herbeiführen.
Es war nicht das Turnier der Stürmer
Von den klassischen Angreifern ragte niemand heraus. Klar, Kai Havertz und Niclas Füllkrug trafen – aber insgesamt war es nicht das Turnier der Stürmer. Klassische Strafraumstürmer wie Füllkrug, bei den Holländern Wout Weghorst oder den Franzosen Olivier Giroud, wurden oft erst spät und in höchster Not eingewechselt. Harry Kane spielte bei England oft weit zurückgezogen im Mittelfeld, auf Positionen, die sonst der „10“ oder gar der „6“, also einem wie Toni Kroos, vorbehalten sind. Sogar bei Spanien hat sich Morata in der Angriffsmitte aufgerieben.
Die Torgefahr kam bei dieser EM eher aus dem Mittelfeld, von Spielern, die plötzlich nachrückten wie Musiala (Deutschland), Rodri (Spanien), Belllingham (England) – oder sogar von den Außenverteidigern. Es gab sehr wenige Mannschaften, die versucht haben, ihre Sturmspitze im Strafraum mit Flanken zu füttern. Das Motto war eher: hohe Flanken erst, wenn die anderen kaputt sind, oder uns die Zeit davonläuft – also in der Schlussphase des Spiels.
Ronaldo und Co. treten ab – es übernimmt die Generation „Jugend forscht“
Cristiano Ronaldo, Pepe, Luka Modrić, Toni Kroos – die großen, alten Namen des Fußballs wollten dem Turnier nochmal ihren Stempel aufdrücken. Und mussten letztlich den Platz räumen, oft genug unter Tränen. Denn diese EM war ein Triumph der jungen Generation. Die spanische Flügelzange mit Lamine Yamal (16) und Nico Williams (21): jugendlicher Leichtsinn gepaart mit Zielstrebigkeit vor dem Tor.
Jude Bellingham, selten glänzend, für England aber sehr wichtig: gerade erst 21 geworden. Sein Haken schlagender Teamkollege auf dem rechten Flügel, Bukayo Saka: 22 Jahre jung. Der Spanier Dany Olmo, Matchwinner gegen Deutschland: mit 26 im besten Fußball-Alter. Die Generation „Jugend forscht“ setzte die Glanzlichter dieser EM – und schob die Alten der Bühne.
Aufgezeichnet von stern-Autor Tilman Gerwien.