Der Fußball feiert sich selbst, und mit ihm feiern sich alle. Die EM in Deutschland zeigt: Das Spiel berührt die Seele. Bis heute. stern-Reporter Tilman Gerwien zieht eine EM-Bilanz.
Klar, das Wetter: mal so, mal so – also durchaus deutsch. Die Bahn notorisch unpünktlich, die „Volunteers“ in ihren grünen Adidas-Jacken supernett, manchmal überfordert. Und das arme Gelsenkirchen ein „Shithole“, wie ein britischer Blogger feststellte, wobei man dem lieben Mann zurufen möchte: Sieht aus wie bei dir zu Hause, oder?
EM 2024 in Deutschland: Keine Döner-Bude ohne Live-TV
Das ganze Genöle und Gejaule passt nicht zu dem, was auch zu erleben war: laue Nächte, in denen durch ganze Straßenzüge die aufgeregten Stimmen der Reporter schallten, keine Döner-Bude ohne Live-TV, und sei es nur Serbien gegen Slowenien. Die Haushaltsnöte der Ampelkoalition: abgedrängt ins „Heute-Journal“ in der Halbzeit. Aber da müssen sowieso alle aufs Klo. Wichtig ist auf dem Platz, dort wird die wahre Weltgeschichte geschrieben, welch wundersame Verschiebung der Bedeutsamkeiten.
Kroatische Fans mit Wasserballkappen, niederländische im orangefarbenen Müllabfuhr-Anzug, in Leipzig vor der Arena zwei Mädchen, die selbst gebastelte Glücksbringer verkauften: links himmlischer Beistand für Kroatien, rechts für Italien. Und in den Stadien, wenn aus den Boxen megalaut „Fire“ donnerte: Tänzelnde Vorfreude von Tausenden auf das, was gleich kommen möge, großes Drama, große Gefühle.
Welch ein Kontrast zur seelenlosen Wüsten-WM
Die gab es tatsächlich: Der große Cristiano Ronaldo, der seinen weinenden Teamkollegen Pepe, eigentlich einer von der ganz harten Sorte, in den Arm nimmt und tröstet wie ein kleines Kind. Der Bundestrainer nach der Pleite gegen Spanien, mit gebrochener Stimme und Tränenglanz in den Augen. Trotz des türkischen Wolfsgrußes, trotz Uefa-Kommerz-Kacke in den Stadien (sieben Euro für den halben Liter Bier!), trotz voller Züge und kaputter Klimaanlagen: welch ein Kontrast zur seelenlosen WM in der Fußball-Wüste von Katar 2022!
Der Fußball feiert sich selbst, und mit ihm feiern sich alle, denen dieses wunderbare Spiel etwas bedeutet. Längst ein Milliarden-Business und doch nicht totzukriegen. Es berührt die Seele, bis heute. Das war groß. Und das wird bleiben.
Tilman Gerwien erlebte 1974 schon die WM in Deutschland. Das DFB-Team holte den Titel. Die Stimmung war damals schlechter, das Wetter auch.