„40 Gründe, warum Deutschland abschmiert“: Das Tempolimit-Chaos zerstückelt unsere Städte: 20, 40, 30 (bis 17 Uhr)

Wer in Berlin die Tempolimits beachten will, braucht eine Autofahr-KI oder gefährdet den Verkehr. So viele und unterschiedliche Schilder stehen dort. Schuld ist nicht der „Amtschimmel“, sondern zu autofreundliche Gesetze.

Dieser Text stammt aus dem Buch „Wir dürfen jetzt nichts überstürzen! 40 Gründe, warum Deutschland abschmiert“ von Marcus Werner

Wir und die Autos. Mann, Mann, Mann, Mann, Mann. Weil sanftes Fahren innerorts gesetzlich immer noch als abartig gilt, wimmelt es mittlerweile an Schildern, wo es ausnahmsweise tatsächlich langsamer zugehen soll. Das verwirrt, sieht hässlich aus und ist teuer. Es gäbe eine Lösung. Komm ich gleich zu.

Der Berliner Oranienkiez ist so voller Tempolimitschilder, den kann man bestimmt vom Weltraum aus glitzern sehen. Dieses Chaos ist eigentlich nur von einer Autofahr-KI zu bewältigen, die es noch nicht gibt.

Wenn Sie mit dem Auto durch den Oranienkiez mitten in Kreuzberg kurven, brauchen Sie jemanden auf dem Beifahrersitz, der für Sie darauf achtet, wie schnell Sie gerade fahren dürfen. Denn das ändert sich auf den Straßen dort alle paar Meter, und das kann kein Mensch aufnehmen. Man muss ja schließlich auch noch auf die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer achten.Buch 40 Gründe warum Deutschland abschmiert

… dann dürfen Sie rund zehn Meter lang 50 fahren

Fahren Sie etwa die Oranienstraße entlang, gilt Tempo 30. Nicht als Zone, sondern gekennzeichnet durch ein kleines rundes Schild mit rotem Rand als Streckenabschnittsbeschränkung. Ein paar Hundert Meter weiter, am Oranienplatz, gilt 50, aber nur für rund 200 Meter, dann gilt geradeaus wieder 30, biegen Sie links ein, gelangen Sie in eine 30er-Zone. Fahren Sie dort westlich, gelangen Sie in eine Straße, in der 10 gilt, während nördlich eine 20er-Zone beginnt. Wären Sie vorher geradeaus gefahren, wären Sie aus der 30er-Zone herausgelangt, um dann rechts auf einer Strecke von rund zehn Metern 50 fahren zu dürfen, bis Sie dahinter direkt auf 30 ausgebremst werden, aber nicht als Zone, sondern jetzt mit der zeitlichen Beschränkung bis 17 Uhr.

Aber gucken Sie nicht zu lange auf die Uhr, das lohnt sich nicht, denn wenige Meter weiter steht „30“ ganz ohne zeitliche Beschränkung. Hinter einer Einbiegung hat man dann aber erst gar kein 30er-Schild mehr aufgestellt, sodass man die geschätzt 150 Meter bis zur Ampel im Grunde wieder 50 fahren darf. Für dieses km/h-Chaos benötigen Sie Dutzende von Schildern, von denen eines mit Pfosten gut und gerne 150 Euro kostet (plus Montage und plus Reinigung in den Folgejahren).

Nun höre ich Sie schon mit dicker Halsschlagader ungebremst schreien: „Gut gewiehert, Amtsschimmel!“

Die müssen das so machen: Weil es das Gesetz so verlangt

Aber gemach. Die armen Schilder-aufstell-Planer*innen können gar nichts dafür. Die müssen das so machen. Weil es das Gesetz so von ihnen verlangt.

Zum einen soll es 30er-Zonen (also die mit den großen quadratischen Schildern), grob gesagt, nur in Wohngebieten geben. Diese zeichnen sich nach Dafürhalten der Gesetzeserfinder etwa dadurch aus, dass sich in ihnen keine Vorfahrtsstraßen befinden, also die mit dem Zeichen im Stil eines viereckigen Spiegeleis.

Wenn, dann dürfen es nur die dreieckigen Schilder sein, die uns die Vorfahrt für die nächste Einmündung einräumen. Aber auch nur dreimal hintereinander (außer, es verläuft eine Buslinie entlang dieser Straße). Sonst öffnete das Tür und Tor fürs Langsamfahren. Und wo kämen wir da hin in diesem Land? Sind wir hier etwa in Spanien?

Ampeln soll es auch keine in der 30er-Zone geben. Für 30erZonen sind Rechts-vor-links-Gebiete ein Paradies. Durchkreuzt eine Spiegelei-Vorfahrtstraße die Zone, muss diese Zone an jener Vorfahrtstraße enden und direkt danach auf der gegenüberliegenden Straßenseite wieder beginnen.

Also, Sie sehen schon: Die 30er-Zone kann nur dorthin, wo alles darauf hindeutet, dass niemand schnell durchfahren will. Es zählt vorwiegend, was die Menschen in ihrer temporären Rolle als Autofahrende wollen. Und das gilt auch dort, wo 30 streckenweise gilt (rundes Zeichen mit 30 drauf). Einfach 30 vorschreiben, weil 50 einem zu schnell ist, das geht nicht. Es muss schon einen Grund geben für mehr Verkehrssicherheit oder Ruhe, etwa wenn in der Nähe der Straße Schulen, Kitas oder Altenheime liegen.STERN PAID Rasen 20.25

Pro Anlass fürs Tempolimit ist nach 300 Metern Schluss

Und jetzt kommt’s: Damit Schule und Altenheim nicht hinterlistig als Vorwand dafür genutzt werden, gleich kilometerlang den Stadtverkehr freundlicher für Radfahrer und Fußgänger zu gestalten, ist pro Anlass nach 300 Metern Schluss mit langsam. Danach muss es einen neuen Grund geben. Liegt die nächste Schule aber 400 Meter weiter, muss zwischendurch eine Höchstgeschwindigkeit von 50 gelten. Nicht selten mit dem Ergebnis, dass dieser Bereich nur wenige Meter lang reicht. Mit Schaltgetriebe bekommen Sie da eine Sehnenscheidenentzündung.

Und zu guter Letzt gibt es als Gipfel des 30-nur-da-wo-es-sich-wirklich-nicht-verhindern-lässt-Heckmecks die Konstellation, dass die 30er-Zone an einer Vorfahrtsstraße enden muss, die ihrerseits aber einen 30er-Streckenabschnitt an dieser Stelle aufweist. Mit anderen Worten: Die 30er-Zone wird für eine 30er-Strecke unterbrochen. Mit Zonenbeendigungsschild (quadratisch) plus Streckentempobeschränkungsschild (rund).

Das alles ist teuer, verwirrend und sieht eklig regulierungswütig aus. Der beschränkte Horizont der Gesetze beschränkt sozusagen uns allen auf der Straße den Horizont. Es gäbe eine Lösung gegen diesen Schilderwahn: eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer innerorts außer auf großen Verkehrsadern.

Der ADAC rechnet vor, dass etwa in München bereits auf über 80 Prozent der Straßen Tempo 30 gilt. Kritikern von 30 innerorts dient das als Argument zu sagen: „Was wollt ihr mehr?“ Antwort: weniger Regelungschaos. Wenn schon 80 Prozent der Straßen 30erBereiche sind, dann können wir nur erahnen, wie viele Schilder abmontiert werden könnten, wenn generell 30 gölte und nur die Hauptverkehrsadern mit 50er-Schildern bestückt werden müssten.Klimapolitik sozial (un-)gerecht 12.08

Über 1000 Kommunen wollen die Tempolimit-Gesetze liberalisieren

Die Stimmung könnte kippen. Die Initiative „Lebenswerte Städte und Gemeinden“ von über 1000 deutschen Kommunen fordert, Tempo 30 dort anordnen zu können, wo sie es vor Ort für richtig halten. Und nicht nur dort, wo konkrete Gefährdungen drohen, und vor sozialen Einrichtungen. Ende 2023 war ein Gesetzentwurf dazu noch am Bundesrat gescheitert. Mit anderen Worten: Die Leute im Bundesrat wollen, dass auch gegen den Willen der Menschen in den Kommunen schnell gefahren werden muss. Ist das irre? Nein. Das ist deutsch. Es darf sich nichts verändern. Sonst befürchten wir das Ende unserer Identität.

Der ADAC warnt zwar, dass Tempo 30 außerhalb von Wohngebieten die Autofahrer dazu verleiten könnte, ausgerechnet durch die Wohngebiete zu fahren, weil es dort ja auch nicht langsamer voranginge. Aber meine Güte, Leute, mal generell: Das kann doch nicht sein, dass wir in Deutschland in unseren Städten nicht langsamer fahren, weil sonst der Verkehr im Wohngebiet zu wild wird – und wir dann das wiederum nicht geregelt kriegen. Das größte Land der EU gibt sich auf. Wegen endgültiger Planlosigkeit.

Jeder, der kurz googelt, findet Lösungen gegen Durchgangsverkehr in Wohngebieten: durch Kiezblocks, wie sie in Barcelona mittlerweile vorkommen. Die Verkehrsführung wird so angepasst, dass Wohngebiete eben keine Parallelen zu den Hauptverkehrsadern bieten, sondern dass wir im Auto immer wieder auf die große Ausgangsstraße zurückgelangen, was solche Fahrten zu Umwegen macht und nur noch für Anlieger sinnvoll ist.

Tempo 30: Das heißt nicht, dass wir plötzlich nachts um drei Uhr auf sechsspurigen Straßen in Gewerbegebieten mutterseelenallein 30 fahren müssen. Sondern es bedeutet weniger Rechtfertigungsdruck für den Wunsch nach Entschleunigung dort, wo Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer sich den Raum teilen. Autofahrer sind auch manchmal Radfahrer. Und der Fußgänger von vormittags setzt sich nachmittags vielleicht in seinen Skoda. Wir sind auf der Straße keine Feinde! Wir wollen alle mehr Lebensqualität für alle.