Großbritannien wählt: Wie Labour die Wirtschaft beleben und mit Europa umgehen will

Labour-Chef Keir Starmer steht laut Umfragen vor einem Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl am Donnerstag. Wandel und Wohlstand verspricht er den Briten. Doch das Erbe, das er antritt, ist schwer: Die Kassen sind leer und der Brexit wirkt nach.

Disclaimer Capital

Nur zwei Wochen nach den Parlamentswahlen wird der voraussichtlich neue britische Premierminister seinen ersten wichtigen Europa-Termin wahrnehmen. Wenn am 18. Juli die Amtskollegen von mehr als 40 Ländern in Blenheim Palace zum Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) eintreffen, wird ihr Gastgeber vermutlich Keir Starmer heißen. Seine Labour-Partei steht vor einem erdrutschartigem Wahlsieg. Bei dem EPG-Treffen wird es eine erste europapolitische Kursbestimmung der neuen Regierung geben. 

Nach 14 Jahren konservativer Herrschaft und dem Austritt aus der Europäischen Union stellt sich nun die Frage: Will eine Labour-Regierung wieder näher an den Kontinent heranrücken? Sicherheitspolitisch ist die Kooperation auch angesichts des Ukrainekriegs nie abgebrochen. Aber für eine stärkere wirtschaftliche Dynamik, die Labour seinen Wählern in Aussicht stellt, läge ein neuerlicher Schulterschluss durchaus nahe – kostet der 2020 vollzogene Brexit doch zwischen vier und sechs Prozentpunkte der wirtschaftlichen Wertschöpfung. 

Eine Kehrtwende ist allerdings nicht zu erwarten. Schon im Wahlkampf spielten der Brexit und seine Folgen kaum eine Rolle. Labour-Spitzenkandidat Starmer, Sohn eines Werkzeugmachers und einer Krankenschwester aus einer Kleinstadt in Surrey, war – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Jeremy Corbyn – ein konsequenter Brexit-Gegner. Doch das Streitthema, das fast ein Jahrzehnt lang eine ganze Nation und auch die Labour-Partei gespalten hat, wurde von allen Politikern sorgfältig umschifft. Keiner war darauf aus, ohne Not schlafende Hunde zu wecken – und dem Gegner eine Angriffsfläche bieten. 

Dafür machte Labour das wirtschafts- und finanzpolitische Scheitern der Tories zum prominenten Wahlkampfthema – als ob der EU-Austritt dafür kein zentraler Angelpunkt gewesen wäre. Starmer, gelernter Jurist und später so etwas wie ein Generalbundesanwalt, trat an mit dem Motto „Wandel“: Wer für Labour stimme, wähle den Weg zu mehr Wohlstand, versicherte er den von den stark gestiegenen Lebenshaltungskosten frustrierten Briten. Er wolle ein neues Kapitel aufschlagen, um das Land aus seiner wirtschaftlichen Depression zu befreien. „Es ist eine Stimme für den wirtschaftlichen Wiederaufbau“, sagt Starmer. „Mehr Wohlstand zu schaffen, ist unsere oberste Priorität.“

Seit die erratische Konservative Liz Truss in Downing Street durch massive Steuersenkungen ohne erkennbare Gegenfinanzierung vor zwei Jahren die Wirtschaft ankurbeln wollte, damit aber einen Beinahe-Crash am Finanzmarkt auslöste, ist das Wählervertrauen in die Tories schwer lädiert. Nachfolger Rishi Sunak steht zwar für eine besonnene Fiskalpolitik und Stabilität, aber seine Versprechen verfangen nicht mehr bei Bürgern, die im Durchschnitt der konservativen Ära um die 10.000 Pfund im Jahr ärmer geworden sind. Labour hat in den Umfragen mit 20 Prozentpunkten die Nase vorn. „Einen solchen Abstand direkt vor den Wahlen gab es zuletzt 1997“, sagt Wahlforscher John Curtice von der Universität Strathclyde.

Starmer bittet nun um ein Mandat für Wirtschaftsreformen, die das Wachstum ankurbeln sollen. Nach Einschätzung seines Parteifreundes Peter Mandelson wird er für einen Richtungswechsel eher eine Revolution brauchen: vom unproduktiven Regierungsapparat in London bis hin zu den ausgehungerten Kommunen, die von den Tories sehr selektiv mit Geld bedacht wurden. Auch braucht es beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren, um den Investitionsstau in der öffentlichen Infrastruktur und bei privaten Bauvorhaben aufzulösen. 

Schweres finanzielles Erbe 

14 Jahre Tory-Herrschaft hinterlassen nicht nur Schienen, Straßen und Brücken in marodem Zustand, sie hinterlassen im Fahrwasser der Coronakrise auch einen höheren Schuldenberg als bei den europäischen Nachbarn, weil die Wirtschaft nicht wieder richtig angesprungen. So muss Labour möglichst mit anderen Lösungen aufwarten, als mit einfach mehr Geld. „Starmers fünf Missionen, oder sechs erste Schritte, stehen und fallen mit einem Upgrade für den Staat auf nationaler wie kommunaler Ebene“, schrieb die „Financial Times“ – „einschließlich einer neuen Industrie- und Investitionspolitik.“ 

Welche Reformschritte Labour im Blick hat, umreißt ein Mitte Juni vorgestelltes Manifest bisher nur holzschnittartig. Flaggen der Veranstaltung in Manchester verkündeten Ziele wie „kürzere Wartezeiten auf Arzttermine“ oder „wirtschaftliche Stabilität“. Den Weg dahin gebe auch die A5-Broschüre nicht preis, die 33 Starmer-Fotos enthalte, aber kaum politische Programmatik, schreibt ein bissiger Kommentator. 

Labour-Parteichef Keir Starmer hält im Wahlkampf das Wahlprogramm hoch.
© empics | Stefan Rousseau

Ein stets heikles Thema: die Steuern. Labour hat ausgeschlossen, die Einkommens-, Mehrwertsteuer oder Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen. Vielmehr sollen Steuerschlupflöcher geschlossen, Privatschulen stärker besteuert und Immobilienkäufe von Ausländern höher belastet werden. Die Körperschaftsteuer werde bis Ende der Legislaturperiode bei 25 Prozent gedeckelt, unterschiedliche Unternehmensteuern vereinfacht.

Ohne Mehreinnahmen bleiben Labour zum Zünden des Wachstumsmotors aber auch bloß als Alternativen, zu sparen oder mehr Schulden aufzunehmen. So peilt Starmer zwar ausgeglichene Haushalte und ein Abtragen des Schuldenbergs an, aber offenbar möchte er eine in der mehrjährigen Finanzplanung eingebaute Schuldenbremse lockern: Staatliche Investitionen sollen nicht mehr angerechnet werden. 

Wie zuletzt auch die Tories setzt Labour auf „grünes Wachstum“ mit gezielten Investitionsanreizen in Zukunftsindustrien. 650.000 neue Jobs verspricht sich Labour davon. Wo Konservative Windparks an Land, neue Kernkraftwerke und die Förderung von Energieeffizienz gestoppt haben, sollen Entscheidungen revidiert werden. Labour möchte Großbritannien zur Supermacht bei den Ökoenergien machen und zur wettbewerbsfähigen Exportmacht für Zukunftstechnologien. 

So kündigt Labour ein neues staatseigenes Unternehmen „Great British Energy“ an, das über die Abschöpfung von Übergewinnsteuern der Öl- und Gasgesellschaften „endgültig mit höheren Rechnungen Schluss machen“ werde. Damit der grüne Versorger sich auch an Investitionskosten beteiligen kann, sind in der Legislaturperiode für ihn 8,3 Mrd. Pfund vorgesehen. Zudem sollen aus einem neuen National Wealth Fund (gespeist mit 7,3 Mrd. Pfund) Gelder zum Beispiel in Seehäfen, den Wasserstoff-Hochlauf, Carbon Capture-Techniken, oder in Industrie-Cluster „in allen Ecken Großbritanniens“ fließen.

Einige Beobachter halten das Programm für radikaler, als es oberflächlich den Anschein habe. Labour-Chef Starmer sagt von sich, er sei ein Sozialist, aber ein progressiver. Seine erneuerte Partei nennt sich „pro Worker“ und „pro Business“. Man will in einer aktiveren Regierungsrolle eine strategische Partnerschaft mit Unternehmern suchen, um Märkte nicht nur zu bedienen, sondern auch zu formen. Sektoral richtet Labour das Augenmerk auf die Finanzwirtschaft, auf Exzellenz-Forschung, spezialisierte Dienstleistungen, hochentwickelte Fertigung und kreative Industriezweige, darunter für Künstliche Intelligenz und Datenzentren – ohne die traditionellen Industrien Auto, Stahl und Pharma zu vernachlässigen. 

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Geht Labour einen Schritt auf die EU zu?

Für zentral halten Ökonomen, ob es Labour gelingt, die größte Wachstumsbremse des Landes zu lösen: die Konsumschwäche. Verantwortlich dafür sind unter anderem die stark gestiegenen Verbraucherpreise, die auch auf Brüche in Lieferketten zurückgehen – in der Coronakrise, aber eben auch als Folge des Brexit. Laut dem britischen Office for Budget Responsibility stutzte der Brexit den Handel um 15 Prozent.

Der Außenhandel der Insel mit dem EU-Binnenmarkt war über die vergangenen Jahre keine Erfolgsgeschichte. Das Pro-Brexit-Referendum stoppte 2016 den Aufwärtstrend von Güterimporten aus der EU: Das Handelsvolumen erlebte laut EU-Zahlen im März 2019 mit 32,8 Mrd. Euro einen kurzen Höhepunkt, dann einen Tiefpunkt von 14,5 Mrd. Euro im April 2020, um sich bis Ende 2022 auf 32 Mrd. Euro zu erholen. 2023 und 2024 blieben Einfuhren aus der EU jedoch unter 30 Mrd. Euro pro Monat. Auf mäßigem Niveau blieben seit 2016 auch britische Exporte in die EU: Mit einem Tief von 6,6 Mrd. Euro im Januar 2021. Nach einem Anstieg auf 20 Mrd. Euro im September 2022 verharrten die Ausfuhren zuletzt unter 14 Mrd. Euro je Monat – was etwa dem Niveau von 2016 entspricht. 

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Trotzdem bleibt das Vereinigte Königreich ein großer und wichtiger Handelspartner der EU. Es hat einen Anteil von zehn Prozent an Europas Außenhandelsumsatz (2023). Größter ist der Warenaustausch nur mit den USA (17 Prozent) und China (15 Prozent). Auch Labour würde den Außenhandel gern intensivieren, allerdings ohne gleich dem Binnenmarkt, einer Zollunion oder wie Norwegen dem Europäischen Wirtschaftsraum beizutreten. Diese Optionen hat die Partei unter Starmer ebenso ausgeschlossen wie die in der EU garantierte Personenfreizügigkeit. Die rote Linie bleibt: Man will politisch in Fragen wie Zuwanderung, der Regulierung von Dienstleistungen oder Handelsabkommen mit Drittstaaten autonom bleiben.

Vielmehr liebäugelt Labour mit dem Gedanken, ein sanitäres und phytosanitäres Abkommen mit der EU über pflanzliche und tierische Erzeugnisse auszuhandeln. Das würde „die Handelsschranken erheblich verringern und helfen, die Kosten und Verzögerungen für die gebeutelten britischen Erzeuger und Verbraucher zu reduzieren“, umschrieb ein Labour-Sprecher das Ansinnen. Die Kosten für die Grenzkontrollen von EU-Nahrungsprodukten werden laut dem Center for European Reform (CER) von der Regierung auf 330 Mio. Pfund, von der Branche näher an 3 Mrd. Pfund geschätzt. Trifft Letzteres zu, wäre das gewiss ein starker Treiber der Lebensmittelinflation, die den Geldbeutel der Briten stark belastet.

Doch müsste ein eingeschränkt pro-europäischer Regierungschef seine EU-Partner erst einmal dazu bringen, nach dem Rosenkrieg des Brexit wieder zu verhandeln. Die EU werde auch ihren Preis dafür verlangen, die Beziehungen über die Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit hinaus wieder aufzubauen, meint Charles Grant, Direktor des Centre for European Reform in London. „Die Staats- und Regierungschefs der EU werden ihm [Starmer] zu verstehen geben, dass er einige ihrer Wünsche erfüllen muss, wenn er von der EU etwas haben will“, sagt Grant. 

Verladung eines Schiffscontainers mit britischer Landesflagge
© Pond5 Images

So möchte Brüssel beispielsweise eine Vereinbarung über die Jugendmobilität, damit junge Menschen in der EU und im Vereinigten Königreich mehr Zeit auf der anderen Seite des Ärmelkanals verbringen können. Und die EU wünscht eine Regelung für Fisch: Sobald das derzeitige Abkommen, das EU-Fischern Zugang zu britischen Gewässern gewährt, 2026 ausläuft, muss jährlich neu verhandelt werden. Es sei denn, London akzeptiert ein anderes langfristiges Abkommen. „Die EU glaubt an Verhandlungen und Kompromisse, auf die sich eine Regierung Starmer einlassen muss, wenn sie die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien verbessern will“, sagt Grant.

Somit darf ein neuer Labour-Premier wohl ein gewisses Wohlwollen erwarten. Doch muss die Regierung zuerst Klarheit schaffen, was sie erreichen möchte. So bezweifeln Experten, dass technische Verbesserungen wie ein Veterinär-Deal wirtschaftlich überhaupt einen spürbaren Schub geben. Die Nutzen wären relativ minimal und nicht ausreichend, um die fortgesetzte Wirkung des Brexit auszugleichen, schätzt der Thinktank „UK in a Changing Europe“ – es würden höchstens wie „mit Sandpapier die schärfsten Kanten geschliffen“. Das Norwegen-Modell wiederum würde zwar den Handel beflügeln, aber auch Personenfreizügigkeit und Beiträge zum EU-Haushalt umfassen. 

„Je stärker seine Mehrheit im Unterhaus, desto größer wird der Raum für politischen Mut“, schätzt Andrew Marr, der Herausgeber des „New Statesman“. Aus seiner Sicht hat die Nation längst ihre Meinung zu dem „vergifteten“ Scheidungsabkommen mit der EU unter Boris Johnson geändert, und es gäbe keine bessere Gelegenheit als Labours erste 18 Monate im Amt, um das Verhältnis zu dem gigantischen Markt an der Türschwelle wieder einzurenken, glaubt Marr. Und er erinnert daran, dass dem belgischen Politiker Guy Verhofstadt (einst im EU-Verhandlungsteam) ein Assoziierungsabkommen vorschwebte. Starmers heutige Vorsicht „ist auf keinen Fall das Ende dieser Geschichte. Das wird schon bald deutlich werden.“