Überraschend wechselt die junge Abgeordnete Melis Sekmen von den Grünen zur CDU. Ihre ehemalige Partei versucht zu beschwichtigen. Doch die Entscheidung weist auf ein größeres Problem.
Die Abgeordneten der Union werden aufgerufen, sich zu setzen. Die Fraktionssitzung soll gleich beginnen. Doch Melis Sekmen kommt nur langsam voran, sie schüttelt Hände, wird umarmt.
Noch am Sonntag war die 30-Jährige eine Grüne. Am Dienstag kommt sie mit dem Aufzug auf der Fraktionsebene des Bundestags an und biegt strahlend nicht zu den Grünen ab, sondern zu CDU und CSU: ihre erste Sitzung bei der Unionsfraktion. Noch als Gast zwar. Doch ihr Austritt bei den Grünen ist besiegelt, der Eintritt in die CDU schon beantragt.
Wechsel von Melis Sekmen lässt sich für die Union gut verkaufen
Es ist ein Wechsel, der für Aufsehen sorgt. „Eine tiefe Enttäuschung auch von der grünen Partei und der grünen Fraktion“, attestiert ihr CDU-Chef Friedrich Merz. Man wolle sie mit Respekt vor ihrer Entscheidung, auch vor ihrer Geschichte, „einer wirklich beeindruckenden Geschichte“, in der Fraktion begrüßen. Für die Union ist der Wechsel der eher unbekannten Abgeordneten eine hervorragende Nachricht. Er lässt sich gut verkaufen: eine junge Frau mit Migrationshintergrund aus einer Arbeiterfamilie, die sich nur wenige Monate vor den wichtigen Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg für die Union entscheidet.
Melis Sekmen wird in der Sitzung der Unionsfraktion unter anderem von der ehemaligen Ministerin Julia Klöckner begrüßt
© Lisa Becke
Für eine Partei also, der unter dem Vorsitzenden Merz häufiger attestiert wird, ein Problem mit Frauen zu haben. Und der, zweitens, gerade von Grünen immer wieder vorgeworfen wird, mit dem Thema Migration mutwillig zu polarisieren. Sekmens Wechsel wird damit zum Teil einer größeren Erzählung, einer, die für die Grünen nicht ungefährlich ist.
Grüne: „Reisende soll man nicht aufhalten“
Dort versucht man zu beschwichtigen. Die grüne Fraktion wurde von dem Schritt offenbar überrascht, von der Entscheidung erfuhr man zuerst durch die Presse. Sie bedauere die Entscheidung, sagt Fraktionschefin Britta Haßelmann am Dienstag. Betont aber auch: „Reisende soll man nicht aufhalten.“
Hinter vorgehaltener Hand werden manche deutlicher. Der Verlust für die Fraktion sei nicht groß, schließlich habe Sekmen, die bisher für die Grünen Obfrau im Wirtschaftsausschuss war, ihre Arbeit sowieso vernachlässigt und sich nicht eingebracht. Sie hätte wohl bei den nächsten Wahlen keinen Listenplatz in Baden-Württemberg mehr bekommen, spekuliert einer, „und sieht es als ihren letzten Strohhalm“.
Baerbock – Ich bin auch noch da 06.13
Bei der vergangenen Wahl war Sekmen über Listenplatz 16 in den Bundestag eingezogen, für die kommende Bundestagswahl dürfte diese Position nach Lage der Umfragen wohl nicht mehr reichen. „Wir haben ein Problem weniger“, sagt eine andere Grüne. CDU-Chef Merz betont hingegen am Dienstag, man wolle für Sekmen eine Position finden, in welcher sie ihre Erfahrungen einbringen könne. Sie habe sich bislang schon stark im Bereich der Start-up-Unternehmen engagiert.
Also alles gut? Für die Grünen ist es so einfach nicht, sie tragen trotzdem Schaden davon. Auch weil sie plötzlich nur noch 117 statt 118 Abgeordnete zählen. Sekmens Kreisverband in Mannheim hat die Abtrünnige zwar aufgefordert, ihr Mandat abzulegen, um einem grünen Nachrücker den Weg in den Bundestag zu ermöglichen. Doch das ist für Sekmen offenkundig keine Option. Und dazu verpflichtet werden kann sie nicht, das Grundgesetz gibt den einzelnen Abgeordneten große Freiräume. Sie sind laut Artikel 38 nur „ihrem Gewissen unterworfen“.
Sekmen: Politik muss „unbequeme Realitäten“ benennen
Dass Abgeordnete die Fraktion wechseln, kommt selten vor, Übertritte ins gänzlich andere Lager noch seltener – erst vor einem Jahr hatte Merz die Grünen noch zum „Hauptgegner“ auserkoren. Einen Übertritt von den Grünen zur Union hat es zuletzt 1996 gegeben, als die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld die Seiten wechselte.
FS Fraktionswechsel im Bundestag 16.20
Für die Grünen brisant ist, dass Sekmen ihre Entscheidung mit Vorwürfen begründet, die den Grünen sowieso anhängen: Sie seien zu ideologisch, zu moralisierend, zu wenig auf das bedacht, was die hart arbeitende untere Mittelschicht wirklich bewegt. „Politik muss den Mut haben, unbequeme Realitäten zu benennen, auch, wenn es nicht in die eigene politische Erzählung passt“, schreibt Sekmen in ihrer Erklärung an die Ex-Kollegen. Dafür brauche es eine Debattenkultur, die Menschen „für ihre Meinung oder ihre Sorgen nicht in Schubladen steckt“.
Und: „Menschen sollten nach ihrem Tun und nicht nach ihrer Herkunft beurteilt werden. Menschen, die mehr arbeiten, sollten am Ende des Tages mehr von ihrer Arbeit haben und besser davon leben können.“ Sekmens Vater kam aus der Türkei nach Deutschland. Auf ihrer Website schreibt sie: „Meine Eltern haben viel gearbeitet, phasenweise in zwei Jobs, um gerade so über die Runden zu kommen.“
Bei den Grünen läuft die Aufarbeitung der EU-Wahl-Verluste
Manche bei den Grünen dürften zumindest einige von Sekmens inhaltlichen Auffassungen teilen. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sagte nach den herben Verlusten bei der EU-Wahl Anfang Juni: Die Frage sei, ob die Grünen „die Sorgen der Mehrheit der Menschen in der Mitte der Gesellschaft adressieren“ und „gute Antworten“ liefern könnten. Er forderte dabei auch mehr Klarheit beim Umgang mit Islamismus.
Mit 11,9 Prozent der Wählerstimmen lag das grüne Ergebnis dabei noch niedriger, als im Vorfeld bereits erwartet worden war. Derzeit versucht die Partei noch herauszufinden, welche Lehren sie aus dem schlechten Ergebnis ziehen will. Dabei beziehe man auch die „Stimmung“ im Land mit ein, sagte Co-Parteichef Omid Nouripour am Montag. Ergebnisse wolle man „bald“ öffentlich machen, „in ein, zwei Wochen“.
Für Sekmen kommt das, so oder so, zu spät. Für sie selbst sei das ein langer Prozess gewesen, sagt sie. Viele Monate lang habe sie gerungen, abgewogen, und „Erfahrungen der letzten Zeit und Jahre Revue passieren lassen“. Für sie sei dieser Schritt jetzt einer „nach vorne“. In die Zukunft, ohne die Grünen.