„Verdammt nah am Abgrund“, aber immer noch dabei. Die konstant schwachen Engländer schaffen bei dieser EM Erstaunliches. Matchwinner Bellingham polarisiert nicht nur mit einer obszönen Jubelgeste.
Noch verschwitzt und im Trikot knöpfte sich Jude Bellingham die zahlreichen Kritiker in der Heimat vor. Englands EM-Retter sprach nach seinem denkwürdigen Fußballabend in Gelsenkirchen ganz frei vom „Müll“, der insbesondere in diesen Tagen immer wieder über ihn, sein Team und vor allem Trainer Gareth Southgate verbreitet werde.
Nach der sportlichen Botschaft in Form eines akrobatischen Fallrückziehers in der fünften Minute der Nachspielzeit legte Bellingham verbal kräftig nach: „Es wird viel geredet. Und ich glaube, man muss das ein bisschen persönlich nehmen. Und in solchen Momenten ist es schön, es einigen Leuten heimzuzahlen.“
„Eines der besten Tore in der Geschichte Englands„
Passend zu seinen Worten hatte er während des glücklichen 2:1 nach Verlängerung gegen Außenseiter Slowakei einen Griff Richtung eigene Genitalien angedeutet – ein Gruß an die Freunde, wie Bellingham über die sozialen Netzwerke wissen ließ. Die ganz große Blamage und das Ende der knapp acht Jahre langen Ära Southgate konnten Torschütze Harry Kane und Co. mit ganz viel Glück und einem Geniestreich von Bellingham noch abwenden. Kane sprach von „einem der besten Tore in der Geschichte Englands“.
Doch während der Champions-League-Sieger von Real Madrid nach kurzer Stippvisite vor der Weltpresse wieder verschwand, tobte in der Heimat schon die nächste Runde der Dauerdebatte. Es ging dabei weniger um das anstehende Viertelfinale am Samstag (18.00 Uhr) gegen die Schweiz oder die weiter greifbare erste Titelchance nach 58 Jahren, sondern um Bellingham, Southgate – und vor allem die Darbietungen im bisherigen Turnier.
Buchmacher sehen Three Lions vorne
„Wir waren elendig schlecht und zwar in allen vier Spielen“, sagte Ex-Nationalspieler Gary Neville bei ITV. Aller Schönrednerei von Southgate und Co. zum Trotz würde kaum ein Zuschauer nach den Spielen gegen Serbien (1:0), Dänemark (1:1), Slowenien (0:0) und nun die Slowakei widersprechen wollen. England rumpelt Richtung Berlin, bis zum Finale am 14. Juli sind es tatsächlich nur noch zwei Schritte. Bei den Buchmachern ist das Ensemble mit einem Marktwert von über einer Milliarde Euro sogar weiter der Topfavorit.
Und der günstige Turnierbaum ohne einen der Topfavoriten in der eigenen Hälfte könnte eine erneute Finalteilnahme begünstigen. Auch die in der Vorrunde sieglosen Portugiesen bei der EM 2016 und die defensiv-vorsichtigen Franzosen bei der WM 2018 sahen lange nicht aus wie ein zukünftiger Titelträger. „Es hört sich komisch an, aber ich habe nie gefühlt, dass dieser Abend das Ende unseres Turniers ist“, sagte Southgate, der bei einer Niederlage wohl noch in der Arena auf Schalke sein Ende als Chefcoach erklärt hätte.
TV-Experte Neville kann sich nicht vorstellen, dass die bisherigen Leistungen für eine weitere Runde reichen. „Wir müssen jetzt dramatisch etwas verändern. Ich habe mit Gareth Southgate gespielt und kenne ihn. Er ist ein großartiger Kerl und verfügt über enorme Integrität. Aber er wird erkennen, dass er verdammt nah am Abgrund war.“
Und auch im Land des nächsten Gegners hält sich der Respekt in engen Grenzen. Der Schweizer „Blick“ nannte Southgate eine „ungeliebte Notlösung“ und sieht Englands Stern schon längst „im Sinken“. So überzeugend wie das eigene 2:0 gegen Italien war das Weiterkommen der Engländer bei Weitem nicht.
Auf Ratlosigkeit folgt Rettung
Die Liste der Mängel bei den Three Lions ist sehr lang. Kane und Bellingham wirken trotz ihrer jeweils zwei Turniertore überspielt und teilweise wie Fremdkörper. Auch von Phil Foden und Bukayo Saka kommt viel zu wenig. Gegen die Slowakei leistete sich erstmals auch die Defensive, in der gegen die Schweiz der gesperrte Innenverteidiger Marc Guehi fehlen wird, grobe Fehler.
„Wir wollen besser sein, das will ich gar nicht wegdiskutieren. Aber der Spirit und der Charakter waren da“, sagte Southgate. Wie der 53-Jährige trotz Rückstands nur zweimal in 90 Minuten wechselte und mit tief vergrabenen Händen in den Hosentaschen an der Linie stand, wirkte wie ein Zeichen von großer Ratlosigkeit. Doch nach der Rettung durch Bellingham schien wieder alles gut. „Wir hatten heute diesen Zusammenhalt und wir würden alles tun, um diesen Trainer zu schützen“, sagte Mittelfeldspieler Declan Rice.
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