Achse mit Warschau: Scholz in Polen – hat sein Gastgeber ein Rezept gegen die extreme Rechte?

Olaf Scholz reist fast mit seinem ganzen Kabinett zum deutsch-polnischen Gipfel, um eine neue Dynamik in die Beziehungen zu bringen. Tatsächlich brauchen beide Länder einander mehr denn je. In einem Punkt könnte sich der Kanzler von Polens Premier Donald Tusk wertvolle Tipps geben lassen.

Rund eine Stunde dauert ein Flug zwischen Warschau und Berlin. Dass Olaf Scholz und mit ihm fast das komplette Kabinett bereits am Montagabend zu den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen anreist, obwohl diese erst am Dienstag stattfinden, ist ein Zeichen an den östlichsten Nachbarn: Liebe Polen, ihr seid uns so wichtig, dass wir trotz voller Kalender schon am Vortag kommen.

Es sind die ersten Beratungen dieser Art seit November 2018. Sie sollen ein Signal des Aufbruchs für die Beziehungen der beiden Länder sein, die lange unter der rechtsnationalistischen PiS-Regierung in Polen litten. Und für Scholz könnten sie sogar mehr sein.

Denn die Lage in Europa ist für ihn schwierig, er ist auf der Suche nach Freunden. Sollten die Rechtspopulisten unter Führung von Marine Le Pen in Frankreich nach der zweiten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag dort die Regierung übernehmen, dürfte der bisherige engste Verbündete Deutschlands in Europa auf absehbare Zeit als Partner ausfallen. Polen könnte zumindest teilweise dieses Vakuum füllen.

Polen Rückabwicklung 21.18

Dafür sprechen nicht nur die wirtschaftlichen Verbindungen: Polen ist für Deutschland der fünftwichtigste Handelspartner – und nach Frankreich und den Niederlanden der drittwichtigste in Europa. Im vergangenen Jahr wurden Waren in Höhe von fast 170 Milliarden Euro zwischen beiden Ländern gehandelt. 

Die alte Regierung sprach vom „Vierten Reich“

Auch sicherheitspolitisch spielt Polen seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine Schlüsselrolle in der EU, sei es bei der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen (Polen hat nach Deutschland die meisten aufgenommen), sei es bei Waffenlieferungen an die Ukraine, sei es bei der Stärkung der Ostflanke (Polen hat eine gemeinsame Grenze mit Belarus und durch die russische Exklave Kaliningrad auch mit Russland). 

Ein „neues Kapitel“ in den bilateralen Beziehungen hatte der Bundeskanzler schon bei seinem Antrittsbesuch in Warschau im Dezember 2021 angekündigt. Allerdings hatte er es damals auf der Gegenseite noch mit der nationalistischen und EU-feindlichen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zu tun. Deren Vizeregierungschef Jarosław Kaczyński warf Deutschland kurz nach Scholz‘ Besuch vor, die Europäische Union in ein „Viertes Deutsches Reich“ umwandeln zu wollen.

Endlich ist in Warschau wieder ein Europa-Freund an der Macht

Seit vergangenem Oktober ist das anders: Da schaffte es der frühere Premier Donald Tusk trotz massiver Behinderung durch die staatlich kontrollierten Medien, mit seiner liberalen Partei „Bürgerplattform“ (PO) als zweitstärkste Kraft aus den Parlamentswahlen hervorzugehen und mit zwei kleineren Koalitionspartnern (dem konservativen „Dritten Weg“ und dem Linksbündnis „Lewica“) eine Regierung zu bilden. Für Berlin bedeutet das, dass in Warschau nach acht schwierigen Jahren wieder ein europafreundlicher Ministerpräsident im Amt ist, den man bereits aus früheren Zeiten kennt. Tusk war von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates.

„Das Jahr 2024 kann für die deutsch-polnischen Beziehungen zu einem Wendejahr werden“, sagt David Gregosz, Leiter des Warschauer Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Deutschland brauche Polen nicht nur als Partner in der Sicherheitspolitik bei der Stärkung der Ostflanke, sondern auch für Europa. 

Europablog gespaltenes Polen 21.00

2025 hat Polen die Ratspräsidentschaft der EU inne, wird also auch bei innereuropäischen Reformen die Weichen mit stellen – etwa, wenn es darum geht, das viele Prozesse ausbremsende Prinzip der Einstimmigkeit zu diskutieren. „Realpolitisch bleibt der Bundesregierung gar nichts anderes übrig, als mit anderen europafreundlichen Kräften an der Zukunft der Union zu arbeiten“, meint Gregosz. 

Leitet das Warschauer Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen: David Gregosz.
© Ilona Szymańska

Die heikle Frage nach der Wiedergutmachung

Auch historisch gibt es einen Anknüpfungspunkt, wenngleich einen heiklen: Am 1. September jährt sich der Angriff auf Polen durch das nationalsozialistische Deutschland zum 85. Mal. Die polnischen Forderungen nach Reparationszahlungen und die teils genervte Abwehrreaktion von deutscher Seite sind ein Dauerkonflikt in den Beziehungen. „Das Bedürfnis Polens nach Wiedergutmachung sollte ernstgenommen und nicht als bloße Parteipolitik abgetan werden“, warnt Gregosz: „Bei allen finanziellen Forderungen in gewaltiger Höhe, steht dahinter vor allem der Wunsch, dass das polnische Leid Anerkennung findet.“

Immerhin nimmt die Bundesregierung hier schon symbolisch etwas im Gepäck mit nach Warschau. In Berlin soll bald ein „Deutsch-Polnisches Haus“, als Erinnerungsort an die Opfer der deutschen Besatzung in Polen aber auch darüber hinaus an gemeinsame Geschichte entstehen. Es fällt in das Ressort von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die bei den Regierungskonsultationen auch dabei ist. 

Ganz ohne Konflikte werden die deutsch-polnischen Beziehungen auch unter dem neuen Premier Tusk nicht ablaufen. Dazu steht dieser auch zu sehr unter Druck, sich als Führer einer selbstbewussten Nation innerhalb der EU zu behaupten und nicht als „Büttel“ Deutschlands dazustehen (ein Vorwurf, dem ihm die PiS im Wahlkampf gemacht hatte). Auch trägt man in Polen dem Nachbarn die lange Zurückhaltung gegenüber Russlands Aggressionen nach.

Tusk_Vereidigung12.20

Der Politologe Gregosz hält daher eine Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen von deutscher Seite für sinnvoll, angefangen bei mehr gemeinsamen Manövern der deutschen Bundeswehr mit den polnischen Streitkräften bis hin zu einem neuen deutsch-polnischen Vertrag. Der letzte, der so genannte Nachbarschaftsvertrag, wurde 1991 geschlossen. 

Was Olaf Scholz von Donald Tusk lernen kann

In einem brandaktuellen Punkt könnte sich Scholz ein paar Tipps vom polnischen Kollegen einholen: Wie man Rechtspopulisten besiegt. Tusk sei dies unter anderem durch eine „schlüssige Social-Media-Kampagne“ und durch die Organisation von großen volksnahen Veranstaltungen gelungen, mit denen er auch Nicht-Wähler wieder an die Urne brachte, sagt der Experte Gregosz.

Tusk gelang dies unter erschwerten Bedingungen. Denn in ihrer Regierungszeit hatte die PiS-Partei rechtsstaatliche Strukturen immer weiter abgebaut, etwa die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien.

Will Scholz den Niedergang seiner Partei nach dem schlechten Europawahl-Ergebnis aufhalten, müssen er und die SPD bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst beweisen, dass auch die deutsche Regierung neue Rezepte im Kampf gegen die Rechtspopulisten gefunden haben.