Einsame werden öfter krank und sterben früher – vielleicht auch, weil sie zu wenig berührt werden. Dienstleisterinnen wie Alexandra Überschaer ersetzen, was vielen fehlt.
Interview Kuscheltherapeutin 2. Versuch
Mein Bauch gluckert. Ein Zeichen, dass mein Vagusnerv aktiv ist. Ich bin im Verdauungsmodus, atme tief, mein Puls geht langsam, meine Augen sind geschlossen. Das Gluckern hat mir Alexandra Überschaer prophezeit, sie kennt das von all ihren Klienten. Sachte streichelt sie meine Wange und mein Haar. Ich lehne mit dem Rücken an ihr, ihr Kopf über mir, auf dem Zwei-Meter-Bett, das einen Großteil der Fläche des Raums in der Zweizimmerwohnung ausfüllt. Ich blicke auf die beiden Polsterstühle, auf denen wir gerade noch unser Interview führten. Wir schweigen, von draußen dringt das Rauschen des Verkehrs auf der großen Ausfallstraße in Hamburg-Ottensen.
Seit sechs Jahren betreibt Alexandra Überschaer ihre Kuschelpraxis im zweiten Stock eines 50er-Jahre-Wohnhauses aus rotem Klinkerstein – zusammen mit drei Kolleginnen und zwei Kollegen. Die Idee für diesen Beruf reicht weit in ihre Vergangenheit zurück. Vor mehr als 20 Jahren machte sie eine Ausbildung zur Pflegekraft – da habe sie oft gespürt, dass ihre Patienten etwas brauchten, was sie ihnen aus ihrer Rolle heraus nicht habe geben können: Berührungen, Streicheleinheiten, Umarmungen. Viel später, als sie sich zur Multilevel-Systemcoachin ausbildete, begann sie als Assistentin in Persönlichkeitsentwicklungs-Seminaren, andere Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer zu halten. „Und dann habe ich das alles dann zusammengeführt.“
Die Klienten leiden an Einsamkeit, Depressionen oder Missbrauchserfahrungen
Ihre Klienten, mehr Männer als Frauen, kommen aus allen Altersgruppen, von Anfang 20 bis über 80 Jahre, und aus unterschiedlichsten Motiven. Sehr viele leiden an Depressionen, sagt sie. Bei den Frauen sei oft eine Missbrauchsthematik im Hintergrund. „Sie haben so viel Angst vor Berührungen, dass sie deshalb keine Beziehungen eingehen.“ Oft kämen auch Frühgeborene, die in ihren ersten Lebensmonaten „unterversorgt“ gewesen seien mit Berührungen und lebenslang Nachholbedarf hätten, den ihre Partner oder Kinder nicht stillen könnten. „Dieses Bedürfnis kann in einer Kuscheltherapie gut nachgenährt werden. Sie gehen in die Regression, wenn sie ganz innig gehalten werden.“
Der Therapieraum in der Kuschelpraxis: Erst nach einem ausführlichen Gespräch, in dem Alexandra Überschaer auch die „Berührungsbiografie“ erfragt, kommt es zu körperlichen Berührungen.
© Bernhard Albrecht
Einsamkeit spiele bei sehr vielen Klienten eine große Rolle, auch wenn fast nie jemand das Thema offen anspreche. „Da fühle ich mich eher so ein bisschen als Hebamme dieses Wortes.“ Wenn der Mensch sich dann hingebe und halten lasse, sei der richtige Zeitpunkt für die Frage. „Dann kann man ja im weiteren Gespräch gemeinsam rausfinden, welche Auswege es gibt.“
Jeder sechste Deutsche im Alter zwischen 18 und 29 Jahren fühlt sich einsam
Das Thema Einsamkeit hat mich in diese Praxis geführt – weil ich dieses Gefühl, diesen Zustand eines existenziellen Mangels an menschlicher Nähe für eine Serie von Artikeln lange erforscht habe. Nach den neuesten Zahlen des „Einsamkeitsbarometers 2024“, das vom Bundesfamilienministerium Ende Mai vorgestellt wurde, ist die Einsamkeitsbelastung der Bevölkerung zwar seit dem Jahr 2020 zurückgegangen, doch liegt sie insgesamt immer noch höher als im Jahr 2017. Vor allem viele junge Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren fühlen sich auch jetzt noch, mehr als ein Jahr nach dem offiziellen Ende der Corona-Pandemie, stark einsam – jeder sechste ist betroffen.
STERN PAID Einsamkeitsprotokoll Ulrike S
Wenn man tiefer in die Einsamkeitsforschung einsteigt, fällt auf, dass die große Bedeutung des Mangels an Berührung, dem Einsame ausgesetzt sind, nahezu völlig ignoriert wird. Das ist schwer verständlich. Der Tastsinn ist von elementarer Bedeutung für unser Dasein. Im Alter von nur acht Wochen reagieren Embryos schon auf Berührungsreize. Wenn wir sterben, ist der Tastsinn der letzte, der uns bleibt.
Für zarte Berührungen gibt es im Körper ein eigenes „Streichelnerven-Netz“
Für langsame Streichelberührungen gibt es sogar ein eigenes Netzwerk aus sogenannten CT-Nervenbahnen, das den Körper durchzieht, manche Forschende sprechen von einem „Streichelnerven-Netz“. Sie leiten die Signale von mehreren Milliarden Berührungsrezeptoren ans Gehirn weiter, das daraufhin die Produktion und Ausschüttung des „Kuschelhormons“ Oxytocin ankurbelt. Auch verändert sich die Empfindlichkeit für Endorphine, einer Gruppe körpereigener Opiate. In der Folge kommt es zum Abbau von Stresshormonen und der Verlangsamung von Atmung und Herzschlag. Der Körper entspannt sich, wir fühlen uns wohl.
Es gibt zumindest indirekte Hinweise aus der Wissenschaft, dass sich Kuscheln auf die persönliche Einstellung zur eigenen Einsamkeit auswirken kann. Ein deutsch-israelisches Team von Forschenden veröffentlichte erst vor wenigen Wochen eine Untersuchung über die Frage, wie sich Oxytocin, verabreicht als Nasenspray, bei 78 Teilnehmenden von Gruppentherapien auswirkt, die sich einsam fühlten. Das Ergebnis: Oxytocin stärkte die positive Beziehung zu den anderen Gruppenmitgliedern und reduzierte akute Einsamkeitsgefühle – im Vergleich zu einer Placebogruppe, die statt Oxytocin nur Kochsalzlösung enthielt. Jana Liebertz von der Uniklinik Bonn, die an der Studie beteiligt war, interpretiert das Ergebnis so, dass man Patienten zu Beginn einer Therapie unterstützen könnte. „Die beobachteten Effekte der Oxytocin-Gabe können Betroffenen helfen, am Ball zu bleiben und weiterzumachen.“
Ärztlich verordnete Kuscheltherapie?
Was sie nicht sagt, wage ich hier anzufügen: Für Teilnehmende solcher Gruppen könnte natürlich auch eine ärztlich verordnete Kuscheltherapie hilfreich sein – insofern sie so viel körperliche Nähe überhaupt zulassen können. Denkbar wäre auch, an den Kliniken speziell auf die psychologischen Bedürfnisse der Patienten geschulte medizinische Masseure für so eine Zusatztherapie einzustellen.
Natürlich kann man nicht alleine mit Berührungstherapie Einsamkeit kurieren, das ist auch Alexandra Überschaer klar.
Sie glaubt – andersherum –, dass es keinen Menschen gibt, der sich einsam fühlt, obwohl er viel wohltuende Berührung bekommt. Und: „Ein Mensch hingegen, der niemals berührt wird, der wird sich einsam fühlen, egal was er sonst noch alles bekommt an Interventionen gegen Einsamkeit.“ Es sind Sätze, über die es sich nachzudenken lohnt. Was hätte es zum Beispiel für Konsequenzen für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Pflegeheimbewohnern, wenn sie immer wieder mal von professionellen Berührerinnen und Berührern in den Arm genommen würden? Überschaer hat einen schwerkranken Klienten in so einem Heim, der sie jeden Donnerstag kommen lässt, weil er es sich aus eigener Tasche leisten kann. Vielleicht wäre es eine Überlegung wert, daraus eine Kassenleistung für bestimmte Fälle zu machen. Die immer wieder aufflammenden Diskussionen über von der Solidargemeinschaft bezahlte Sexarbeiterinnen für Pflegebedürftige und Behinderte wären dann vielleicht überflüssig, weil auch schon eine Kuscheltherapie genügt, das jedem innewohnende Bedürfnis nach intimer Nähe zu stillen.
Ohnehin hat die Kuscheltherapie, die ich erlebe, nichts Sexuelles an sich. Das liegt auch daran, dass Überschaer Profi ist und weiß, wie sie verhindert, dass sexuelle Erregung entsteht. Mit Männern meidet sich bestimmte Positionen, zum Beispiel solche, in denen sich die Becken berühren. Auf den „Kuschelpartys“, die sie auch immer wieder organisiert und die heute in vielen deutschen Städten stattfinden, muss sie immer zu Anfang die Spielregeln klären: Keine Berührung von intimen Partien, keine Hand darf unterm T-Shirt des anderen verschwinden, auch wenn der das vielleicht zulassen würde. „Was die dann nach so einer Party machen, ist natürlich ihre Sache“, sagt sie. Kürzlich hätten zwei Teilnehmende geheiratet, nur drei Monate nach der Kuschelparty standen sie vor dem Traualtar.
Meine eigene Session mit Überschaer sollte nur fünf Minuten dauern. Ich wollte nur wissen, wie sich ihre Therapie anfühlt. Am Ende wurde es eine halbe Stunde. Das Interview zuvor war für uns beide wichtig, denn so intime Nähe ist schwierig, ohne dass man sich vorher ein bisschen vertraut ist. Bei den Kuschelpartys haben die Teilnehmenden mehrere Stunden Zeit, sich kennenzulernen, bevor sie sich berühren.