Graphic Novel „Columbusstraße“: Eine Reise in die Geschichte der eigenen Familie – zur Nazi-Zeit

In „Columbusstraße“ wird eine Familiengeschichte erzählt, die über zwei Generationen an verschiedenen Orten spielt – und tiefe Einblicke ins Privatleben während des Zweiten Weltkriegs gibt.

Es ist nicht einfach, die eigene Familie nach ihrer Haltung in der Zeit unter Hitler zu befragen. Die kursierenden Überlieferungen haben aus den Altvorderen häufig Menschen gemacht, die Widerstands-Helden waren. Doch wären all diese Geschichten wahr, hätte es kein Nazi-Deutschland, keine Konzentrationslager, keine sechs Millionen ermordete Juden gegeben. 

Der Autor und Illustrator Tobi Dahmen hat den Blick in die Vergangenheit nicht gescheut. Er hat seinen Vater befragt, wie es wirklich war – und nach dessen Tod einen riesigen Fundus an Dokumenten gesichtet. Darin befanden sich Feldpost-Briefe seiner Onkel, die regelmäßig von der Front geschrieben hatten, sowie Anmerkungen seines Großvaters, der als Rechtsanwalt in Neuss die Gratwanderung zwischen Recht und Gewissen zugunsten seiner Familie entschieden hat. Er lebte mit seiner Familie in der Columbusstraße in Düsseldorf-Oberkassel, einem feinen Stadtteil. Es mangelte an nichts. Bis die Zeiten sich änderten.

Acht Jahre hat Tobi Dahmen gebraucht, um die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Vier Jahre benötigte er alleine für die Recherche, den Zeitstrahl und den Abgleich der Fakten mit der privaten Historie. Vier weitere für seine Graphic Novel „Columbusstraße“. Die Lektüre sei hier wärmstens empfohlen – 528 Seiten, inklusive eines detaillierten Glossars, die sich für alle Generationen eignen! Der stern hat den Autor und Illustrator befragt, wie man ein solches Projekt angeht. Und aushält.

Zur Person

Erinnerungskultur anhand der eigenen Familie zu pflegen, wie ließ sich das für Sie emotional bewältigen?
Die intensivsten emotionalen Momente bestanden wohl darin, das Material zu studieren. Es für andere verständlich zu machen, war der zweite Schritt. Ich filtere es ja auch. Die emotionalen Momente waren insbesondere die, in denen ich Mitgefühl empfunden habe. Das war ambivalent, weil ich auch gesehen habe, dass mein Großvater einerseits Verantwortung getragen hat und andererseits plötzlich doch Teil dieses verbrecherischen Systems war. Und für die folgende Generation sind die Weichen sehr früh gestellt worden: Die jungen Leute, inklusive meines Vaters, hatten relativ wenig Möglichkeiten, an diesem System mitzubestimmen. Das ist eine Sache, an die ich viel denke. Der älteste Sohn, mein Onkel Eberhard, war 1933 zwölf Jahre alt. Sie hatten keinerlei Mitspracherecht.

Sie hatten keine Möglichkeit, dem System auszuweichen?
Wenig. Als Kinder sowieso nicht. Ab 1939 war es verpflichtend, der Hitlerjugend beizutreten, es bestand die sogenannte „Jugenddienstpflicht“. Und mein Großvater sah seine Felle davonschwimmen, weil er als Jurist seine Aufträge verlor sowie seine Konzession für den Bereich Neuss. Da hat er gedacht: „Jetzt muss ich, wenn ich nicht alles verlieren will, in diese Partei eintreten.“ Damit war er natürlich auch verantwortlich. Aber das System war so eingerichtet, dass es einem unglaublich schwergemacht wurde, sich dagegen zu widersetzen. Ganz zu schweigen von Widerstandstaten. Schon ganz kleine galten als Verbrechen, etwa jemandem zu helfen, dem man nicht helfen sollte. 

Das hat Ihr Großvater aber trotzdem gemacht.
Genau. Gleichzeitig gibt es aber auch emotionale Momente, die man nicht so gerne liest, bei denen man sich sogar erschreckt. Etwa antisemitische Texte, die den rassistischen Äußerungen, denen man heute begegnet, sehr nahekommen. Dann denkt man: So ein gebildeter Mann, der müsste da eigentlich drüberstehen. Aber nein, da sieht man, wie weit verbreitet das war. Selbst manche Widerstandskämpfer, die nichts mit den Nazis zu tun haben wollten, hatten trotzdem Schnittmengen mit ihnen. 

Was war die schwerste Erkenntnis?
Wenn man gemerkt hat, dass die Familienerzählung abweicht von dem, was tatsächlich passiert ist – und man sieht, dass die Realität ein einziges Grauen war. Das macht was mit einem. Aber darauf werde ich erst im späteren Verlauf der Geschichte eingehen. Ich will die „Columbusstraße“ ja noch weitererzählen.

Ach, ehrlich? 
Es gibt ja noch so ein paar lose Enden.

Absolut!
Da wird es noch weitere Antworten geben. Fürs Erste komme ich nicht dazu, fürchte ich. Ich habe noch zwei andere Projekte, die ich dieses Jahr beenden muss. Aber: 100 Seiten sind schon gezeichnet! Ich habe nahtlos weitergemacht, das schließt direkt an. Ich finde die Nachkriegszeit ebenfalls extrem wichtig. Auch um zu zeigen: Haben sie damals Konsequenzen daraus gezogen? Und wenn ja: welche? Bei den meisten war es dieses Schweigen. Gleichzeitig wird auch die Geschichte meiner Mutter wichtiger werden, die im Osten aufgewachsen ist und dann unter sowjetischer Besatzung leben musste. Das hatte natürlich auch seine Schattenseiten.

„Columbusstraße – Eine Familiengeschichte 1935–1945“ von Tobi Dahmen (Autor und Illustrator), Carlsen Comics, 528 Seiten inklusive Glossar, 40 Euro. Erhältlich bei Anbietern wie Thalia, Amazon oder Bücher.de
© Tobi Dahmen_Columbusstraße / Carlsen Verlag 2024

Dieses Buch endet in den Kindertagen Ihres Vaters. Da wissen wir Leser noch nichts von der Mutter.
Der Titel „Columbusstraße“ hat mehrere Bedeutungen. Es ist die Grundlage für die Existenz meines Vaters, weil er dort geboren ist und wir dort einen Teil seines Lebens bis zu seinem Ende erleben. Diese Straße wird irgendwann später aber auch zur Grundlage meiner Existenz. 

Weil Ihre Eltern sich dort begegnen? 
Genau.

Was hat für Sie den Ausschlag gegeben, diese Geschichte zu erzählen?
Ich habe zum Glück während einer Zugreise ein langes Gespräch mit meinem Vater geführt. Da hatten wir viel Zeit und ich habe ihn gebeten: „Erzähl mir mal alles, was du erlebt hast, damit ich darauf irgendwann zurückgreifen kann.“ Ich hätte es schrecklich gefunden, wenn einmal die Frage entsteht: „Wie war das eigentlich ganz genau?“ Und ich hätte es nicht beantworten können. Ich fand es hilfreich, das als Aufnahme zu haben. Später habe ich es transkribiert. Als er dann starb, habe ich gemerkt, was das für ein unglaublicher Trost war, auch seine Stimme noch zu haben, die in meiner iTunes-Bibliothek ab und zu mal vorbeikommt. Plötzliche spricht er wieder mit mir.

Hat er es geschafft, die ganze Nazi-Zeit zu erzählen?
Ich kannte seine Geschichte vorher im Groben. Nach seinem Tod sind wir seinen Nachlass durchgegangen. Da wurde all das, was er mir erzählt hat, noch unterstützt durch das Material, was ich da gefunden habe – und noch weiter ausgeschmückt. Es ist ein enormer Fundus. Es gibt kaum Familien, die so viel haben. Ich fühlte mich dadurch fast verpflichtet, irgendwas damit zu machen – nicht nur die Geschichten von ihm für meine eigene Familie aufzubewahren.

Wie kam Ihnen das in den Sinn?
Weil parallel hier auch gesellschaftliche Dinge passierten, die sogenannte Flüchtlingskrise, bei der sich auf einmal eine Empathielosigkeit auftat, eine Geschichtsvergessenheit, eine Bequemlichkeit, die mich total erschreckt hat. Ich habe gesehen, dass die Leute komplett vergessen hatten, wie es in Deutschland noch vor relativ wenigen Jahren ausgesehen hat und überhaupt keine Empathie für die Kriegsopfer da war. 

Wie sind Sie vorgegangen?
Ich habe die Familiengeschichte mit historischen Daten kombiniert und dann gesehen, dass das, was meiner Familie passiert ist, sich gleichzeitig auch in den historischen Ereignissen wiederfindet. Nachdem die ersten Bomben gefallen sind, läuft das parallel. Dann habe ich gedacht, mit unserer Geschichte kann ich auch den Verlauf des Krieges erzählen, wie er sich zumindest für einen großen Teil von deutschen Bürgern abgespielt hat. Es ist eine wirklich erfüllende Aufgabe gewesen, weil man ja immer mit diesen ganzen Fragen rumgelaufen ist. Diesen Fragen jetzt so einen Platz zu geben, gab mir ein gewisses Glücksgefühl, weil da nicht mehr diese Lücke in der Chronik klafft.

Hat sich Ihr Kontakt zu dem Teil Ihrer Familie, der noch lebt und vielleicht auch im Buch vorkommt, verändert?
Auf jeden Fall! Natürlich hatte man auch vorher schon das Bindemittel Familie, aber das ist noch mehr geworden, mit manchen sehr intensiv. Mit meiner Cousine Brigitte zum Beispiel. Wir haben stundenlang darüber gesprochen und ein viel innigeres Verhältnis entwickelt. Aber auch mit meiner Mutter. Ich habe mich immer sehr gut mit ihr verstanden, aber wir haben dadurch viel häufiger mal über früher gesprochen. Ihr ist dadurch viel wieder eingefallen. Das ist etwas, wozu ich aufrufen möchte! Wenn man sich für die Generation vor uns interessiert, schlägt einem auch die Dankbarkeit dieser Generation entgegen. Man freut sich selbst ja auch, wenn sich jemand für einen interessiert.

„Columbusstraße“ wurde für den Max und Moritz-Preis 2024 nominiert, der die besten deutschsprachigen Comics auszeichnet. Das Video vom Internationalen Comic-Salon Erlangen gibt einen kurzen Einblick in Tobi Dahmens Zeichenstil.
Video Max und Moritz Preis

 

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