Noch vor knapp zwei Jahren verschuldete der Dortmunder Innenverteidiger das WM-Aus in Katar – jetzt führt Nico Schlotterbeck die deutsche Nationalmannschaft ins EM-Viertelfinale
Als Nico Schlotterbeck einst für Union Berlin spielte, gab er ein Interview, das noch heute, drei Jahre später, als Schlüsseltext gelten darf. Schlotterbeck, 21, ausgeliehen vom SC Freiburg, sagte darin über seinen zwölf Jahre älteren Mitspieler Max Kruse: „Man kann sagen, dass er mich an die Hand genommen und ins Bundesligaleben eingeführt hat.“
Ein banaler Satz, könnte man meinen, doch wer den belobigten Max Kruse kennt, ahnt, was für eine zweifelhafte Grußbotschaft Schlotterbeck gesandt hatte. Es war ungefähr so, als würde ein Tankwart dem Feuerteufel dafür danken, ihm das Benzingeschäft erklärt zu haben.
Zweifelhafter Lehrmeister
Kruse, damals 33 Jahre alt, unternahm gerade einen seiner Resozialisationsversuche als Fußballprofi, diesmal bei Union Berlin. Zuvor hatte er in Gladbach, Wolfsburg, Bremen und Istanbul getestet, was man sich so rausnehmen darf und was nicht. 2016 hatte ihn Bundestrainer Löw aus der Nationalmannschaft geworfen, weil er im Berliner Tanzlokal „Avenue“ einer Reporterin das Smartphone aus der Hand gerissen hatte, die ihn damit fotografiert hatte. Ein Jahr zuvor war bekannt geworden, dass Kruse 75 000 Euro in bar in einem Taxi liegengelassen und Anzeige gegen unbekannt erstattet hatte.
Jener Max Kruse, als Fußballer ebenso talentiert wie als Pokerspieler, war einst der Lehrmeister von Nico Schlotterbeck, und noch heute, da Schlotterbeck längst weitergezogen ist zu Borussia Dortmund und dem deutschen EM-Kader angehört, kann man Kruses Patenschaft in seinem Spiel erkennen. Deutschland Dänemark Einzelkritik FS
Sekundenschlaf mit verheerenden Folgen
So wie Kruse meinte, die Branche sei doch arg verspannt, man müsse das alles lockerer sehen, hey, ist doch bloß Fußball – so gelöst geht auch Schlotterbeck ans Werk. Kruse vergisst Geldbündel auf der Rückbank, Schlotterbeck vergisst, wo Ball und Gegenspieler sind. Diese Blackouts haben es schon ins Vokabular des deutschen Fußballs geschafft: Der Terminus „ein echter Schlotterbeck“ steht für einen Sekundenschlaf mit oftmals verheerenden Folgen fürs eigene Team.
Auch am Samstagabend, im EM-Achtelfinale gegen Dänemark, war wieder ein echter Schlotterbeck zu besichtigen. 42. Minute: Schlotterbeck erobert den Ball im eigenen Strafraum, die Situation scheint geklärt, was zu einem plötzlichen Spannungsabfall in Schlotterbecks Gliedmaßen führt. Der Ball flutscht ihm vom Fuß, er bemerkt den Verlust zunächst nicht und schaut dann nach rechts und links, wo der Ball denn sein könnte. Dänemarks Rasmus Höjlund hat ihn längst und drischt aufs Tor. Schiedsrichter Michael Oliver, an diesem Abend sowieso ein Freund der Deutschen, pfeift die Szene ab. Zum Glück für das DFB-Team. Und zum Glück für Schlotterbeck.
Schlotterbecks kluge Spieleröffnung
Denn so wird die Dänemark-Partie als das beste Länderspiel in Erinnerung bleiben, das Nico Schlotterbeck bislang bestritten hat. Bis auf den Aussetzer in der 42. Minute zeigte Schlotterbeck eine überragende Leistung. Beim 2:0-Sieg war er vielmehr als nur ein Ersatzmann für den gesperrten Jonathan Tah. Schlotterbeck übernahm immer wieder die Spieleröffnung – eigentlich ein Privileg von Toni Kroos. Aber der ließ ihn gewähren, weil er sah, wie klug und souverän Schlotterbeck das machte. Seine Bälle, ob nun Kurzpässe oder raumgreifende Mats-Hummels-Gedenkpässe, erreichten zuverlässig ihre Adressaten. Und mit dem Steilpass auf Jamal Musiala in der 68. Minute leitete er sogar den zweiten deutschen Treffer ein. Grund genug für Schlotterbeck, die Becker-Säge als Jubelgeste auszupacken. Er feiert halt gern, vor allem sich selbst.Regen unter Dortmund 23.56
Es gibt wohl keinen anderen Spieler in der Nationalmannschaft, der sich so sehr am eigenen Spiel berauschen kann wie Schlotterbeck. Er findet sich schon ziemlich klasse, inklusive aller Schwächen, er zeigt wie Popeye, der Seemann, seinen Bizeps, und an manchen Abenden führt die Autosuggestion, überlebensgroß zu sein, zu Weltklasseleistungen.
Der Samstag in Dortmund war ein solcher Abend. Nach dem Schlusspfiff, als Schlotterbeck sich etwas abgekühlt hatte, begriff er die historische Dimension seines Auftritts: Endlich hatte er mal ein Länderspiel entschieden – und zwar zugunsten der eigenen Mannschaft. „Ich bin gottfroh, dass wir zu null gespielt haben“, sagte er, „ich hatte bislang nicht die glücklichsten Auftritte beim DFB.“
Böse Erinnerungen an die WM 2022
Schlotterbeck spielte damit auf die WM 2022 in Katar an. Dort unterlief ihm gleich im ersten Gruppenspiel gegen Japan ein Fehler, der die Deutschen den Einzug ins Achtelfinale kosten sollte (und mit einigen Monaten Verzögerung Bundestrainer Hansi Flick den Job). In der 83. Minute ließ Schlotterbeck den Stürmer Takuna Asano entwischen, der dann den Siegtreffer zum 2:1 für Japan erzielte.
Das Spiel im Khalifa-International-Stadium von Doha festigte Schlotterbecks Ruf, ein Bruder Leichtfuß zu sein, ein Sicherheitsrisiko für die eigene Mannschaft. Nicht nur beim DFB, auch in Dortmund.Joachim Andersen gegen Deutschland 23.48
Wie unterschiedlich sind Mats Hummels und Schlotterbeck doch dort gedeutet worden. Beide spielten sie in den vergangenen zwei Jahren in der Innenverteidigung des BVB, und beiden unterliefen schwere Fehler. Die zu spät eingesprungene Grätsche war ein Klassiker im Dortmunder Abwehrspiel. Bei Hummels hieß jedoch es stets: Er ist hellwach, leider sind seine Beine nicht mehr so schnell wie der Kopf. Bei Schlotterbeck hieß es: Ist ein Superathlet, verschläft Spiele und damit eine Weltkarriere. Selbst schuld.
Ein Sieg, der die schwerste Niederlage vergessen lässt
Schlotterbecks Fehler sehen oft läppisch aus. Sie sind Ausdruck der Selbstüberschätzung, das bisschen Abwehrarbeit auch mit reduzierter Aufmerksamkeit erledigen zu können. Zumindest wirkt es so, und womöglich wird Schlotterbeck wird noch ein paar Spielzeiten damit beschäftigt sein, dieses Bild zu korrigieren. Aber er hat Zeit. Über Innenverteidiger heißt es, dass sie umso wertvoller werden, je erfahrener sie sind. Wie Schwergewichtsboxer.
Nico Schlotterbeck, 24, hat schon einige Rückschläge hinnehmen müssen in seiner jungen Karriere. An diesem Samstagabend in Dortmund aber hat er einen Sieg gefeiert, der seine Niederlage in Katar vergessen lässt.