Am 27. Juni 1988 kommt es im Pariser Bahnhof Gare de Lyon zu einer Katastrophe. Bei einem einfahrenden Nahverkehrszug versagen die Bremsen und er rast mit voller Wucht in einen stehenden Zug. Mehr als 50 Menschen sterben, nochmal so viele werden verletzt.
Es ist ein lauer Sommerabend, als die Katastrophe auf den Bahnhof Gare de Lyon in Paris in Form des Nahverkehrszugs mit der Nummer 153951 zurollt. Die Bahn ist unterwegs von Melun, einer Stadt, die rund 50 Kilometer südöstlich von Paris liegt. Die Fahrt zu dem historischen Kopfbahnhof in Frankreichs Hauptstadt dauert normalerweise 40 Minuten. Doch an jenem Tag gibt es eine Verspätung. Rund zehn Kilometer vor Paris zieht eine junge Mutter plötzlich die Notbremse. Der 21-Jährigen war entgangen, dass der Zug wegen des neuen Sommerfahrplans nicht wie gewohnt den Bahnhof Le Vert de Maisons anfuhr. Dort will sie aussteigen, um ihre Kinder rechtzeitig von der Schule abzuholen. Als der Zug stoppt, springt sie hastig raus und läuft davon.
Der 42-jährige Triebfahrzeugführer muss nun den Alarm ausschalten und die Bremsen wieder lösen. Diese funktionieren über ein Druckluftsystem, über das alle acht Waggons miteinander verbunden sind. Per Funk informiert er das Kontrollzentrum über den Vorfall. Dann steigt er aus und macht sich zusammen mit dem Zugbegleiter daran, dass Problem zu lösen. Um die Notbremse wieder zu aktivieren, muss er einen kleinen Hebel zwischen den ersten zwei Waggons umlegen. Weil dieser jedoch klemmt, stützt er sich für mehr Halt auf das Druckluftventil und schließt es versehentlich. Von da an sind die hinteren sieben Wagen vom Bremssystem getrennt.
Zugführer glaubt an „Luftverschluss“ – ein folgenschwerer Irrtum
Doch nicht nur das. Wenn der Hebel für die Bremsleitung auf „Aus“ gestellt ist, wird ein Sicherheitsmechanismus ausgelöst. Dieser blockiert die Bremsen auch nach Wiederinbetriebnahme der Notbremse. So soll verhindert werden, dass der Zug ohne Druckluft in der Bremsanlage fährt.
Weil sich der Zug also auch nach Umlegen des Hebels nicht in Bewegung setzt, vermutet der Lokführer einen „Luftverschluss“. Dabei handelt es sich um ein bekanntes Eisenbahnerproblem, bei dem der Luftdruck im Bremssystem zu hoch ist, nachdem die Notbremse betätigt wurde. Weil er jedoch keine weitere Verzögerung riskieren will, ruft er keinen Techniker zu Hilfe. Stattdessen will er das Problem alleine lösen. Er steigt wieder aus und lässt manuell in jedem der sieben Waggons die Luft ab. Zwar sind die Bremsen danach wieder frei, doch er hat damit auch die wertvolle Restluft aus dem System gelassen und das Sicherheitssystem außer Kraft gesetzt. Ohne Druckluft sind alle Zugbremsen außer Funktion. Lediglich die Bremsen im Triebwagen funktionieren, weshalb die Messgeräte im Führerhaus auch normale Werte anzeigen.
Der Zug hat durch den unplanmäßigen Aufenthalt bereits 26 Minuten Verspätung. Viele Fahrgäste sind inzwischen ausgestiegen, um ihre Reise mit anderen Verkehrsmitteln fortzusetzen. Der Fahrdienstleiter weist den Lokführer an, die nächste Haltestelle auszulassen und ohne Stopp zum Gare de Lyon durchzufahren. Dabei hätte der Ausfall der Bremsen durch einen Halt am Bahnhof Maisons Alfort rund sieben Kilometer vor Paris auffallen und die Katastrophe verhindern können.
Vollbesetzter Zug wartet am Bahnhof in Paris
Am Bahnhof Gare de Lyon steht derweil Nahverkehrszuge Nummer 153951 in Richtung Melun immer noch auf Bahnsteig 2, weil der Zugbegleiter an jenem Tag zu spät dran ist. Immer mehr Menschen steigen hinzu und drängen sich in der wartenden Bahn. „Der Zug war vollbesetzt. Und aufgrund des warmen Wetters war die Luft sehr stickig“, erinnert sich eine Passagierin in einer TV-Dokumentation. Ihr Glück: Weil sie nicht mehr länger warten will, steigt sie wieder aus. Ein Umstand, der ihr später das Leben rettet.
Da die Strecke vor dem Gare de Lyon ein starkes Gefälle hat, wird der Zugführer aus dem entgegenkommenden Zug von einem Signal angehalten, den Bremsvorgang einzuleiten. Doch als er die Bremsen betätigt, reagieren die kaum. Mit 95 Kilometern pro Stunde rast der 300 Tonnen-Zug völlig außer Kontrolle auf den Bahnhof zu. Der verzweifelte Zugführer bittet den Zugbegleiter nach einer Handbremse zu suchen. Um kurz nach 19 Uhr funkt der Zugführer eine aufgelöste Warnung an das Kontrollzentrum. „Stoppen Sie alles, ich habe keine Bremsen“, meldet er.
Er löst das Funkalarmsignal aus, das im Kontrollzentrum und in den Führerständen aller Züge losgeht, die sich in der Nähe befinden. Sofort stellen die Stellwerke alle Signale von grün auf rot und die Zugführer stoppen ihre Züge, wo auch immer sie gerade sind. Innerhalb von Sekunden kommt das gesamte System zum Stillstand. In seiner Panik vergisst er jedoch völlig, dass der Zug zusätzlich noch mit elektrischen Bremsen ausgestattet ist. Diese benutzen die Zugführer allerdings nur sehr ungern, da ihr Einsatz zusammen mit der Druckluftbremse die Räder blockieren könnten. Außerdem vergisst er beim Anruf im Kontrollzentrum seinen Namen und seine Position durchzugeben. Das führt zu einem weiteren Problem: Die Verantwortlichen können den Zug nicht manuell auf ein freies Gleis umleiten.
Elf Minuten nach dem Unglück erscheinen die ersten Rettungskräfte am Gare de Lyon. Mehr als 300 werden es im Verlauf der weiteren Bergungsarbeiten sein.
Normalerweise werden die Züge automatisch auf freie Gleise geführt. Dies geschieht durch eine entsprechende Programmierung. Doch das Ausrufen des allgemeinen Notfalls durch den Triebfahrzeugführer setzt die automatische Weichenstellung außer Kraft. Dies soll ermöglichen, dass die Stellwerker bei Gefahr im Verzug die volle manuelle Kontrolle über das Schienennetz erhalten. Jetzt aber bleibt der rasende Zug auf seinem Gleis – demselben, auf dem im Bahnhof auch der wartende Nahverkehrszug nach Melun steht.
Fahrgäste bereiten sich im letzten Waggon auf Aufprall vor
Der Zugführer eilt zu den Passagieren und bringt sie in den letzten Wagen des Zuges, wo sie sich auf den Aufprall vorbereiten. Die Stellwerker in Paris sehen den außer Kontrolle geratenen Zug an sich vorbeirauschen. Über die Sprechanlage des Bahnhofs fordern sie die Fahrgäste zum sofortigen Ausstieg auf. Die Fahrgäste stürzen zu den Türen. Auch der Zugführer warnt seine Passagiere. Anstatt sich in Sicherheit zu bringen, bleibt er bis zum Aufprall auf seiner Position, um so viele Passagiere wie möglich mit seinen Durchsagen zu retten. Dann trifft der tonnenschwere Zug mit rund 70 Stundenkilometern auf das Führerhaus und bohrt sich in mehrere Triebwagen.
Elf Minuten nach dem Unglück erscheinen die ersten Rettungskräfte am Gare de Lyon. Mehr als 300 werden es im Verlauf der weiteren Bergungsarbeiten sein. Ihnen bietet sich ein Bild des Grauens. „Es war schrecklich“, erinnert sich ein Notarzt. „Leichen hingen aus dem Fenstern. Man sah enthauptete Menschen und welche, die Arme oder Beine verloren hatten. Es war noch schlimmer als bei Hilfseinsätzen in einem Kriegsgebiet.“ Bei dem überaus heftigen Aufprall werden Passagieren von Eisenteilen der sich ineinanderschiebenden Waggons teilweise ganze Glieder abgetrennt. Viele der Verletzten können nur durch eine Amputation gerettet werden. Augenzeugen berichten von einem „Bild des Horrors“ an der Unfallstelle.
Rettungskräfte kümmern sich um eine in den Trümmern eingeklemmte Frau
Die Waggons werden derart ineinander verkeilt, dass die Bergungsarbeiten sehr schwierig sind. Teilweise türmen sich die Wrackteile bis zur Bahnhofsdecke. Ein junges Mädchen, das an jenem Abend bereits kurz nach dem Zusammenprall entdeckt wird, muss neun Stunden bei vollem Bewusstein eingesperrt in dem Wrack aushalten.
Gegen 12 Uhr am nächsten Tag werden nur noch tote Menschen aus den Trümmern geborgen. Insgesamt sterben bei dem Unglück 56 Menschen. 57 weitere werden verletzt.
Der Lokführer wird in einem Prozess zunächst wegen fahrlässiger Tötung zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. In zweiter Instanz wir das Urteil jedoch gemildert und er erhält eine sechsmonatige Strafe auf Bewährung. Der Zugbegleiter wird in zweiter Instanz freigesprochen und die Frau, die die Notbremse betätigt hat, kommt mit einer Geldstrafe davon.
Die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF ändert nach der Tragödie ihre Sicherheitsvorschriften. Sprechanlagen ermöglichen die Kontaktaufnahme der Passagiere mit dem Zugführer. Das alte Notbremssystem wird ersetzt. Im Notfall kann nur noch der Zugführer selbst die Bremsen aktivieren. Zudem wird die Ausbildung der Zugführer verbessert und das Funksystem modernisiert.
Sehen Sie im Video: Unheimlicher Anblick im kanadischen London: Mehrere Waggons eines Güterzuges stehen in Flammen. Passanten filmen die Szenen – verletzt wurde bei dem Vorfall niemand.
Quellen: Doku vom National Geographic, DPA,