„I am: Céline Dion“: Neue Doku zeigt das Ausmaß von Céline Dions Krankheit

Sie ist eine der erfolgreichsten Sängerinnen der Popgeschichte – und wird wohl nie wieder Konzerte geben können. „I am: Céline Dion“ dokumentiert das Leid einer Frau, die den Sinn ihres Lebens verliert, so schonungslos, dass man kaum hinschauen kann.

Irgendwann, etwa im letzten Viertel dieses Films, will man woanders hinsehen. Vorbei am Bildschirm, aus dem Fenster, auf ein Bild an der Wand, egal. Man möchte gar das Zimmer verlassen, so, wie man auch eine Notaufnahme oder ein Krankenhaus verlassen möchte, weil das Gesehene so schmerzhaft intim und persönlich ist, dass man sich wie ein verdammter Voyeur vorkommt, ja, wie ein Unfallstarrer an der Autobahn. Man wäre froh, wenn jetzt jemand im Film in die Kamera sagen würde: „Gehen Sie bitte weiter.“

Tut aber keiner. Wir sehen die Sängerin Céline Dion, abgemagert auf einer Krankenbahre, sich in Krämpfen windend. Ein Betreuer und ein Notarzt sind bei ihr, sie sprechen mit ihr, aber sie kann kaum antworten. Ihre Oberlippe zittert heftig, aus ihrem Mund kommt nur ein sehr lautes Jaulen, der schmale Körper ist krumm und verkrampft. Der Arzt sagt, man sollte es jetzt mit Nasenspray versuchen. Céline Dion bekommt das kaum mit. Ihr Kopf ist starr, als der Arzt ihr zwei, drei Stöße Spray in die Nase pumpt. 

Ihr Heute ist traurig, nicht unterhaltsam

So sieht der Kampf einer der berühmtesten Sängerinnen der Welt gegen eine Krankheit aus, die ihre Schlingen immer enger zieht und die Dion zunächst ignoriert hatte und gegen die sie sich nun seit Jahren wehrt. Deshalb dieser Film „I am: Céline Dion“. Unterhaltsam ist er nur dann, wenn Dion ein paar Geschichten von früher erzählt oder die Dokumentation Konzertmomente und Auftritte vergangener Zeiten einblendet. Das Heute ist nicht unterhaltsam.

Stattdessen sehenswert? Aufklärend? Passt alles nicht so richtig. Irgendwann ist es egal, ob es Céline Dion ist, der man da zusieht. Die Frau könnte auch in einem Coffeeshop arbeiten oder Kindergärtnerin sein. Die Schlacht, die sie gegen ihre Krankheit führt, ist keine Schlacht eines Weltstars, sondern einer 56-jährigen Frau und dreifachen Mutter, die einfach so weiter leben will wie bisher. Als Weltstar will sie weitersingen, denn das ist alles, was sie hat, sagt sie: ihre Stimme. Wen das in diesen 76 Minuten nicht berührt, der muss aus Stein sein.

Céline Dion spricht über ihre Stimme wie über ein Werkzeug
© amazon MGM Studios

Céline Dion leidet an einer sehr seltenen Erkrankung, die „Stiff-Person-Syndrom“ genannt wird, eine Autoimmun-Krankheit, die vor allem Nerven und Muskeln befällt und das motorische System immer wieder unkontrollierbar macht. Der Körper wird geradezu von Muskelkrämpfen überfallen, Bewegungen wie Gehen oder Tanzen werden schwer bis unmöglich. Heilbar ist das „SPS“ bisher nicht, weil die Medizin noch nicht genau weiß, woher es eigentlich kommt, was auch daran liegt, dass es ein seltener Befund ist.

In Deutschland leiden laut Schätzungen 300 Personen an der Krankheit. Lebensbedrohlich ist sie nicht. Sie hat, so die Medizin, einen langsamen, aber stetigen Verlauf, deren Symptome sich mit teils heftigen Medikament-Dosierungen wie Cortison mildern lassen. Die aber auch das Leben verändern. Oder, wie in diesem Fall, das Leben, das Dion vor der Krankheit hatte, beenden. Darum geht es in „I am: Celine Dion.“

Céline Dion fiel schon als Zwölfjährige mit ihrer Stimme auf

Geboren 1968 in Charlemagne, einer kleinen Stadt nördlich von Montreal in Kanada, wuchs Céline Dion als eines von 14 Kindern in bescheidenen Verhältnissen auf. Es war die Mutter, die ihre Kinder musikalisch animierte, erste Lieder schrieb und komponierte. 

Céline fällt schon mit zwölf Jahren mit ihrer Stimme auf, die für ihr Alter ein großes Volumen hatte. Mit 13 erscheint ihr Debütalbum, damals in französischer Sprache. Mit 15 bekommt sie in Frankreich als erste kanadische Künstlerin eine goldene Schallplatte, mit 20 gewinnt sie für die Schweiz den Eurovision Song Contest, und so geht es weiter bergauf, zunächst nur in Frankreich und Kanada. Der internationale Durchbruch kommt 1992 mit dem Titellied „Beauty and the Beast“ für den gleichnamigen Disney-Film. Ihr Markenzeichen werde große, gewaltige Ballade wie „The Power of Love“ oder „My Heart Will Go On“ für James Camerons „Titanic“, der ihr 1998 den Oscar für den besten Filmsong einbringt.

Mit ihrer Sopran-Stimme, die drei Oktaven umfasst und mit der sie einen Ton bis zu 15 Sekunden halten kann, gehört Dion zu den stimmgewaltigsten Sängerinnen des Pop. Bei allem Erfolg musste sie aber immer auch mit der Kritik leben, nur in großen Balladen zu glänzen, zwar viel Stimme, aber wenig Seele, also „Soul“, zu haben, was sie, hier wird’s gemein, mit dem Sänger Michael Bolton gemeinsam habe. 

Sie verkaufte 170 Millionen Alben

Doch egal, vor Taylor Swifts Erfolg gehörte Céline Dion mit 170 Millionen verkauften Alben zu den erfolgreichsten Künstlerinnen der Popgeschichte. Und zwischen 2000 und 2010 mit knapp 248 Millionen Dollar zu den bestverdienenden. Eine Karriere, die 2022 jäh unterbrochen wurde, als Dion ihre Krankheit öffentlich machte und eine Europa-Tournee absagte. Seither ist sie nicht mehr aufgetreten.

„I am: Celine Dion“, inszeniert von Irene Taylor, zeigt nun ihre Biografie in vielen Konzertmomenten und gefilmten Erinnerungen ihrer Kindheit. Es dauert nicht lange, bis man versteht, dass hier erst ein Mädchen und dann eine Frau in ihrer Stimme, ihrem Gesang und ihrer Musik die Bestimmung ihrer Existenz zu finden geglaubt hat. „Meine Stimme bestimmte mein Leben“, sagt Dion, „ich folgte ihr, ich ließ mich von ihr führen…“, dann macht sie eine Pause, „…und das war okay.“Kämpferisch: Céline Dion bei der Premiere in New York
© amazon MGM Studios

Dion spricht über ihre Stimme wie über ein Werkzeug, das in ihr ein Eigenleben führt. Sie zeigt mit den Händen, wie sie ihre Stimmbänder dehnt, welche Aufwärmtechnik die Stimme verlangt. Wenn ihre Finger das in der Luft vorführen, sieht es aus, als ob sie mit langen Nudeln hantieren würde. 

Als ob der Ton in ihrer Kehle zersplittern würde

Dann sitzt sie wieder da und will es vorführen, einen hohen Ton. Sie schafft ihn auch, aber nur sehr kurz, dann hört es sich an, als ob der Ton in ihrer Kehle zersplittern würde. Sie versucht es nochmal, „an einer Linge liegt es nicht, es sind die Muskeln davor“, sagt sie und der Ton splittert wieder. Céline Dion hat Tränen in den Augen, sie erlebt jeden Tag als einen Tag der Zerstörung. Die Stimme ist zwar noch da, sie kann ja sprechen, aber sie kann nicht mehr das machen, was sie zum Leben braucht. 

Es ist ein bisschen so, als ob ein Maler auf einmal keine Farben, sondern nur noch Schwarz und Weiß sehen kann, oder ein Koch mit seiner Zunge nichts mehr schmecken. Bei Celine Dion wird es noch tragischer, denn nach ihrem Verständnis war es die Stimme, die ihr ein weltweites Publikum in ihre Konzerte brachte, darunter mit Unterbrechungen zwölf Jahre in Las Vegas. 

Fans, die viel Geld bezahlt hatten, und die sie öfter belügen musste, als die Krankheit sie befiel. Sie habe Konzerte mit erfundenen Begründungen abgesagt. Sie sei auf der Bühne gewesen und nach dem ersten Kostümwechsel nicht mehr wiedergekommen. Sie habe sich mit Medikamenten vollgestopft, deren Wirkung schon nach vier, fünf Songs nachließ. Celine Dion 18.50

Der Bruch einer Abmachung mit ihrem Publikum

„Es ist hart, ein Konzert zu geben, aber es ist härter, es nicht zu geben“, sagt sie und man nimmt ihr das Entsetzen ab, ihre Fans hintergangen zu haben. Es ist der Bruch einer Abmachung mit ihrem Publikum, einer Abmachung, die sie reich und berühmt gemacht hat und ihre Anhänger mit ihren Songs glücklich. Sie hat später versucht, das zu reparieren und eine lange Videoansprache öffentlich gemacht. Hat es erklärt und sich entschuldigt. Eine Ansprache, die im Film gezeigt wird, die aber offen lässt, ob diese Céline Dion, dieses „My Heart Will Go On“ jemals wieder zurückkommen wird.

„I am: Céline Dion“
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