Der Vater war gewalttätig, nun verhält sich die Erstgeborene gegenüber der Mutter ebenso, zumindest verbal. Petra K. fragt sich, wie sie den Streit in der Familie schlichten kann. Julia Peirano begibt sich auf Ursachenforschung.
Sehr geehrte Frau Dr. Peirano,
meine Mutter, 84, leidet sehr unter meiner Schwester Ulrike, 60. Wiederholt kam es zu heftigen Zusammenstößen, bei denen Ulrike unsere Mutter anbrüllte, auch öffentlich. Sie provoziert aus dem Nichts Streit. Nach dem letzten Vorfall gestand meine Mutter mir, dass sie Angst vor ihr habe. Unser Vater, lange tot, war gewalttätig und cholerisch. Alle, auch unsere Mutter, hatten unter ihm zu leiden. Ulrike ist und wird immer mehr wie er. Sie ist sich keiner Schuld bewusst, es sind immer nur die anderen. Sie manipuliert und lügt sich ihre „Wahrheit“ zurecht.
Nun hat meine harmoniebedürftige Mutter einen harten Schritt getan und Ulrike erklärt, sie wolle sie vorerst nicht mehr sehen.
Ich, 46, finde das konsequent und unterstütze sie darin, aber ich sehe auch, wie sie leidet. Sie wollte immer festhalten am Bild der heilen Familie, die es so nie gab und das realisiert sie jetzt. Sie hat Fehler gemacht, uns nie geschützt vor den väterlichen Ausbrüchen und uns mit ihm gedroht, aber das ist lange her, fand in einer anderen Zeit statt und ich finde nicht, dass sie gegen Ende ihres Lebens nochmal mit Dingen konfrontiert werden muss, die sie ohnehin in sich trägt.
Meine Schwester hingegen scheint immer wütender zu werden, gibt z.B. die Schuld für ihre gescheiterten Ehen ihren Eltern, behauptet, unser Bruder, 58, und ich seien ihr stets vorgezogen worden und ich bin fassungslos, dass sie das offenbar bislang so schlecht verarbeitet hat.
Ich habe mich vor über zwei Jahren von ihr losgesagt und nach und nach innerlich distanziert, wir kommunizieren nur noch oberflächlich. Einen Versuch, sich auszusprechen, habe ich abgelehnt, weil es erfahrungsgemäß keinen Zweck hat: Sie hat Recht, alle anderen haben Unrecht. Ich kann sie nicht ändern, ich kann mich nur „rausziehen“. Sie ist der Meinung, wir hätten „Wertvolles verloren“, dabei haben wir nichts im Wortsinn „verloren“, sondern sie hat meinen Rückzug mit ihrem Verhalten provoziert. Ich bin die einzige in der Familie, die ihr die Grenzen aufzeigt und jetzt fürchte ich, dass sie auch ihre Wut darüber an unserer Mutter auslässt, da ich mich jeglicher Debatte entziehe.
Vielleicht sind das aber auch alles nur Ausreden, um ihrer persönlichen Unzufriedenheit ein Ventil zu geben. Wenn ich raten müsste: Bei Ulrike brennt es lichterloh. Ich habe den Eindruck, dass sie sich mit Mutter das schwächste Glied in der Kette herauspickt, um sich abzureagieren.
Ich möchte Mutter schützen, weiß aber nicht, wie ich mich hier positionieren soll, ohne dass es noch mehr Ärger gibt. Probleme schlagen sich bei ihr in körperlichen Beschwerden nieder und sie ist sowieso eine zarte Person. Mutter kann anstrengend sein, aber nichts rechtfertigt dieses verbal gewalttätige Verhalten von Ulrike.
Kann ich etwas machen?
Danke für Ihren Rat!
Petra K.
Liebe Petra K.,
als ich Ihre Schilderung gelesen habe, habe ich mich in viele der betroffenen Familienmitglieder hinein versetzt und Mitgefühl gehabt. Ich kenne einige der Probleme und Traumata, die hier angerissen werden, von PatientInnen, die ich länger in Therapie hatte, und kann mir vorstellen, worum es auf einer tieferen Ebene gehen könnte.
Ich hatte zuerst einmal Mitleid mit Ihrer Mutter. Sie ist jetzt 84, hatte anscheinend ein schwieriges Leben mit einem gewalttätigen Mann, hat es nicht geschafft, ihn zu verlassen, sondern mit ihm drei Kinder großgezogen. Und dabei hat sie sich offensichtlich nicht in der Lage gefühlt, sich gegen den Mann zu wehren oder die Kinder vor ihm zu schützen. Sie hat miterleben müssen, wie der wütende und gewalttätige Mann alle in Angst und Schrecken versetzt, den Kindern und ihr schadet und sie letztendlich viele Gefühle abspalten muss, um weiter in der Familie zu bleiben und die heile Fassade, die ja ein Trugbild ist, nach außen zu wahren. Ich gehe noch einen Schritt weiter und frage mich, warum Ihre Mutter sich einen solchen Mann ausgewählt und ihn nicht verlassen hat, und da deutet sich die Vermutung an, dass sie bereits in ihrer Lebensgeschichte Gewalt und Missachtung erlebt hat.
Jetzt ist der Mann tot, und eigentlich könnte Frieden einkehren, doch die älteste Tochter „tyrannisiert“ Ihre Mutter anscheinend, brüllt sie an und macht ihr Vorwürfe und Schuldgefühle.
Als ich mir überlegt habe, warum Ulrike das tut, bekam ich ihr gegenüber auch tiefes Mitgefühl, denn ich sehe das verletzte Kind in ihr. Ulrike ist 14 Jahre älter als Sie es sind, und sie hat deshalb Ihre Eltern auf eine andere Art erlebt als Sie es haben. Es hört sich so an, als wenn Ulrike als älteste Tochter viel mehr Gewalt von Ihrem Vater abbekommen hat, als Sie es sich vorstellen können. Ihr Vater hat ihr Gewalt angetan (Schläge? Verbale Gewalt? Eventuell sogar auch sexuellen Missbrauch?) und die eigene Mutter hat weggeschaut, das Problem verleugnet und ihre Tochter den Fäusten des Vaters überlassen. Und die Mutter hat ihr im Gegenteil sogar mit dem prügelnden Vater gedroht.
Das ist eine traumatische Situation für ein Kind! Sie wurde in ihrer Familie über lange Zeit misshandelt und hatte niemanden, der sie beschützt oder versteht. So etwas hinterlässt tiefe Spuren, zerstört das Urvertrauen und sorgt bei vielen Betroffenen dafür, dass sich auch in späteren Beziehungen zu Partnern entweder das gleiche Muster wiederholt (Frau sucht sich einen gewalttätigen Mann; Mann ist oft selbst gewalttätig) oder dass die Beziehungen scheitern.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich gut nachfühlen kann, dass Ihre Schwester sehr wütend auf Ihre Mutter ist und auch nach so vielen Jahren nicht einfach sagen kann: „Schwamm drüber“. Wir TherapeutInnen sind da erst einmal auf der Seite der Kinder, denn Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen, sondern sind dem ausgeliefert, was die Eltern mit ihnen machen. Und die Eltern sind für das Wohlbefinden und die Sicherheit ihrer Kinder verantwortlich. Also ist hier die Täter-Opfer-Konstellation sehr klar. Nur sieht sie keiner.
Anscheinend hat von Seiten Ihrer Mutter nie eine Aufarbeitung stattgefunden, die zu einer aufrichtigen Entschuldigung bei Ulrike geführt hätte, und dadurch bleibt die starke Wut in Ulrike.Und das zieht sich bis zum heutigen Zeitpunkt, in der alle gegen sie Partei ergreifen – auch Sie als Schwester – und keiner ihr Leid würdigt. Stattdessen heißt es entweder: „Was bist du so aggressiv?“ Oder: „Wir wollen nichts mit dir zu tun haben!“ Oder: „Nimm doch Rücksicht auf deine Mutter.“ (Die aber keine Rücksicht auf sie genommen, sondern sie ans Messer geliefert hat).
Ich habe in Therapien schon öfter Gespräche mit den von Gewalt oder Missbrauch betroffenen Patient:innen und deren Eltern oder zumindest einem Elternteil geführt. Es war dabei immer sehr entscheidend für die weitere Beziehung, wie Eltern auf das Leid und die psychischen Folgen des Kindes reagiert haben. Oft haben die Eltern sich gerechtfertigt oder verlangt, man müsse doch einen Haken unter die Geschichte setzen und nach vorne schauen. Das war dann eine weitere Traumatisierung für die Patientin oder den Patienten, hier auch keine Entschuldigung zu hören, keine Umarmung zu erhalten und keinen Trost.
Ich kann mir vorstellen, dass das der Grund ist, warum Ulrike „lichterloh“ brennt und so wütend ist.
Und wenn ich mir Ihr Familiendrama von außen anschaue, empfinde ich natürlich auch für Sie Mitgefühl, denn Sie haben ein ähnliches Leid erlebt mit einem gewalttätigen Vater und einer Mutter, die wegschaut. Aber Sie haben die Rolle eingenommen, dass Sie versuchen, die Familie zusammenzuhalten und ihre Mutter (die ja eigentlich eine Mittäterin ist) beschützen. Dadurch bleiben Sie auf auf verlorenem Posten, denn das hindert Sie daran, Mitgefühl für Ihre Schwester und für sich selbst zu empfinden.
Haben Sie das, was Ihnen durch Ihren Vater und die wegschauende Mutter passiert ist, schon einmal therapeutisch aufgearbeitet? Das wäre sicherlich hilfreich für Sie. Es ist bestimmt anstrengend, in der Rolle der konstruktiven Tochter, die Frieden stiftet und versucht, mit dem erlittenen Leid irgendwie zurechtzukommen, zu leben.
Wenn Sie das Bedürfnis verspüren, sich hier kompetente psychotherapeutische Hilfe zu holen, wäre das ein guter Schritt. Denn anscheinend haben auch Sie viel abgespalten von Ihren eigenen Empfindungen und Ihrem eigenen Trauma.
Ich würde Ihnen ansonsten empfehlen, sich aus dem Konflikt zwischen Ihrer Mutter und Ihrer Schwester komplett herauszuhalten, auch in Gesprächen mit Ihrer Mutter. Sie haben schon genug Belastungen abbekommen.
Herzliche Grüße
Julia Peirano