Wann es passiert, ist unklar. Aber dass China sich Taiwan auch durch das Militär einverleiben könnte, steht im Raum. Auf der Insel wollen viele vorbereitet sein – und drücken wieder die Schulbank.
Im Bürogebäude einer unscheinbaren Seitengasse Taipehs steht der Ernstfall auf der Tagesordnung. Während draußen zwischen Straßenverkäufern und Essensständen das wuselige Großstadtleben der taiwanischen Hauptstadt tobt, geht es drinnen um Kriegsführung, Propaganda und Erste Hilfe. 40 überwiegend junge Leute haben sich an einem Samstag in der Kuma Academy eingefunden – der Großteil davon Frauen.
„Der Hauptgrund, weshalb ich hier teilgenommen habe, ist, um etwas über die derzeitige Verfassung von Taiwans Verteidigung zu lernen“, sagt die 27 Jahre alte Su. Die Inselrepublik mit mehr als 23 Millionen Einwohnern ist durch eine an ihrer engsten Stelle rund 130 Kilometer breite Meerenge (Taiwanstraße) von China getrennt. Die kommunistische Regierung in Peking zählt Taiwan zu ihrem Gebiet und will die Insel unter ihre Kontrolle bringen, obwohl sie diese bislang nie regiert hatte und dort seit Jahrzehnten eine unabhängig gewählte Regierung an der Macht ist.
Peking beruft sich auf die Geschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Taiwan der Republik China zugesprochen. Dort tobte allerdings ein Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten und den Anhängern der nationalchinesischen Kuomintang. Als die Nationalisten verloren, flohen sie nach Taiwan und regierten dort als Republik China weiter. Im selben Jahr 1949 rief Revolutionsführer Mao Zedong in Peking die Volksrepublik China aus. Peking drohte schon mehrfach, Taiwan auch durch das Militär mit dem Festland „wieder zu vereinen“, sollte es nicht auf friedlichem Wege gelingen.
Training für Kriegs-Bewusstsein
„Die Akademie ist eher dazu da, um ein Bewusstsein für einen möglichen Krieg zu schaffen“, sagt Mitgründer Shen Po-yang – in Taiwan auch als Puma Shen bekannt. Die Menschen sollen vorbereitet sein, falls China seine Invasion auf Taiwan beginnt, und nicht in Panik verfallen.
Laut Shen könnte der beste Zeitraum für einen Angriff aus Pekings Sicht zwischen 2025 und 2027 liegen oder dann, wenn sich die chinesische Führung sicher wäre, dass sich eine Mehrheit der Taiwaner sofort ergeben würde. Wenn genügend Leute das Wissen aus den Kursen der Akademie hätten, könnten sie sich selbst und andere schützen, sagt Shen, der für die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) im Verteidigungsausschuss des Parlaments sitzt.
Ungefähr 40.000 Menschen haben der Akademie zufolge das Training seit Oktober 2022 bereits absolviert. Altersmäßig sei von Jugendlichen bis Armee-Veteranen alles dabei. Fast zwei Drittel in den Kursen sind Frauen. Teilnehmerin Su erklärt, dass Frauen sich mehr für den Kurs interessierten, weil Männer durch die Wehrpflicht in Taiwan bereits bei der Armee gewesen seien und die Materie deshalb schon kennen. Auch Akademie-Sprecher Aaron Huang verweist darauf, dass Männer öfter im öffentlichen Dienst etwa bei Feuerwehr oder Katastrophenhilfe nach Erdbeben eingesetzt würden und so schon Erfahrung hätten.
Zur ersten Stunde: Invasion
Der Morgen beim „Training für zivile Verteidigung“ beginnt mit schwerer Kost: Im Kurs für Kriegstheorie spricht ein Dozent über sogenannte Grau-Zonen-Taktiken. Taiwan erlebt diese fast täglich, wenn Kampfjets der chinesischen Volksbefreiungsarmee die inoffizielle Mittellinie in der Taiwanstraße überfliegen und in die Identifikationszone für Luftverteidigung (ADIZ) – nicht zu verwechseln mit dem Luftraum – eindringen.
Der Lehrer spielt gedanklich auch eine Invasion durch. Einen Vorgeschmack dafür bot Chinas Militär Ende Mai, als Marine, Luftwaffe und Heer eine Blockade um Taiwan und kleinere, nahe China gelegene Inseln probten. Im Ernstfall will China so Fluchtwege aus Taiwan abschneiden und Hilfe von außen für die Insel abblocken. Die Führung befahl die Übung als Strafe, weil wenige Tage zuvor Taiwans neuer Präsident Lai Ching-te das Amt übernahm und aus Pekings Sicht in seiner Rede klar Unabhängigkeitsabsichten benannte.
Peking sieht ihn und seine für eine Unabhängigkeit Taiwans stehende DPP als Separatisten. Taipeh hat die Unabhängigkeit bislang nie offiziell erklärt. Viele Länder gerieten dadurch in großen diplomatischen Zwist mit Peking. Nur sehr wenige Staaten erkennen Taiwan offiziell an. Selbst die USA, Taiwans engster Verbündeter, gehören nicht dazu, obwohl Washington im Verteidigungsfall Unterstützung zugesichert hat.
Ratschläge und Kriegsvideos
In der Akademie spricht eine Dozentin nun über Propaganda und Einflussnahme im Internet, vor allem über soziale Medien. Schon vor den Wahlen im Januar hatten taiwanische Politiker China beschuldigt, so die öffentliche Meinung beeinflusst zu haben. Teilnehmerin Ariel You freut sich über die Ratschläge. Diese helfen ihr, wachsamer bei Informationen im Internet zu sein, wie die Ende-20-Jährige sagt. Puma Shen fordert eine Stärkung der Cybersicherheit. Chinas Hacker seien sehr stark, erklärt er. Er will außerdem mehr Schutz auf Plattformen wie Tiktok gegen chinesische Propaganda.
Die Stimmung im Seminarraum ist trotz der ernsten Themen heiter. Teilnehmerin You wartet vor allem auf den Erste-Hilfe-Teil. „Ich hatte Verbandstechniken gelernt, als ich jünger war, und sie dann vergessen“, erzählt sie. Doch bevor es ans Zupacken geht, lässt der unterrichtende Sanitäter plötzlich den Krieg ganz nah erscheinen: Er spielt das Video eines ukrainischen Soldaten ab, dem eine Mine das Bein wegreißt und der sich mit einem sogenannten Tourniquet noch selbst den Stumpen abbindet, um nicht zu verbluten.
Manche im Raum verstecken sich hinter den Kursunterlagen, um die grauenvolle Szene nicht sehen zu müssen. Kurz danach üben sie selbst, wie sie die Abschnürbinde richtig anlegen oder Verletzte wegtragen müssen. Teilnehmerin Su sagt, sie sei nun etwas beruhigter: „Ich denke, mit dem Wissen über einige Sachen ist es leichter zu verstehen, dass es für sie (China) nicht so leicht ist, wenn sie nach Taiwan kommen und uns angreifen wollen.“