Jagoda Marinić: Sani Unfair: Wie selbst der Klogang zu Geld gemacht wird

Was es über unsere Gesellschaft aussagt, wenn die Bürger selbst für ihre Grundbedürfnisse zur Kasse gebeten werden.

Lange habe ich auf einen Anlass gewartet, über öffentliche Toiletten zu schreiben. Denn ich finde, die Art, wie eine Gesellschaft mit menschlichen Grundbedürfnissen umgeht, erzählt viel über sie. Jedes Mal, wenn ich an einer Tankstelle für mein Benzin bezahlt habe und danach in den teuren Sanifair-Bereich gehe, packt mich die Empörung. Warum werden Tankstellenbetreiber, die selbst Trinkwasser zu Preisen verkaufen, als wäre es mit Goldstaub angereichert, nicht verpflichtet, Toiletten umsonst zu Verfügung zu stellen? Warum darf alles an „den Endkunden“ abgegeben werden? Ich nenne ihn auch „den gewöhnlichen Menschen“.

Bei Abzocke hilft kein Mindestlohn

Der Anlass, der Toiletten endlich auf meine Agenda brachte: Bei „Hart aber fair“ saß neulich ein Trucker im Publikum, der Konstantin Kuhle von der FDP hart anging und dabei die Mehrheit der Zuschauer auf seine Seite zog. Es war die Sendung, in der diskutiert wurde, warum Europäer zunehmend rechts wählen. Der Lkw-Fahrer Jan Labrenz schien dabei leider von der Stimmung in Deutschland mehr zu wissen als die meisten Politiker und Experten in der Sendung. 

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Er war wütend, weil, wie er sagte, die Politiker ihre Diäten erhöht hätten, während sie Arbeitern wie ihm die Spesen kürzten. Dabei müsse er unterwegs schon fürs Duschen vier bis fünf Euro bezahlen und für den Klogang einen Euro. Bei 20 Arbeitstagen investiert der Mann also etwa 240 Euro in seine Grundbedürfnisse. Passt das zur Lindner-FDP und ihren Leitsätzen à la „Leistung muss sich lohnen“?

Wie normal es wurde, überall abzukassieren, ist symbolisch für eine Gesellschaft, in der Einzelne den Eindruck haben, sie würden geschröpft. In meiner Kindheit fuhr man in den Süden Europas, und an den Raststätten saß meist eine Frau, der man Kleingeld auf den weißen Teller werfen konnte. Niemand kam auf die Idee, man müsse, um überhaupt auf die Toilette zu kommen, vorher bezahlen. Heute soll aus allem Profit gemacht werden: Menschen müssen urinieren? Wunderbar, kassiert sie ab! Menschen werden krank? Genial, sagt die Armee der Unternehmensberater, lasst uns doch Geschäfte damit machen. Menschen müssen sterben? Auch Beerdigungen sind inzwischen ein teures Unterfangen. An unterschiedlichsten Stellen wird maximal abkassiert, da hilft auch der Mindestlohn von 12,41 Euro nicht viel.

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Und am Ende fehlt das Vertrauen

Im Ergebnis trauen viele Bürger ihrer Regierung nicht mehr. Zu viel Unsicherheit, ob diese wirklich noch für ihr Volk da ist. Corona hat dieses Misstrauen bei einigen verstärkt. Denkt man daran, dass wir bis heute für Impfstoff bezahlen, der nicht gebraucht wird, weil die Pharmaindustrie Knebelverträge durchsetzen konnte, während Bürger Nothilfen zurückzahlen müssen, wird dieses Misstrauen nachvollziehbar. Wer zahlt, wer bereichert sich?, fragen sich viele. Rechte Parteien, die bisher in den meisten Ländern nicht lange regiert haben, können noch von sich behaupten, sie würden sich kümmern.PAID STERN 2019_29 Lizenz zum Abkassieren

Es geht nicht darum, ob Ärmere rechts wählen; das stimmt meist nicht. Es geht auch nicht um Armut als solche. Es geht um die Wut und Verunsicherung, die entstehen, wenn eine Demokratie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt, die auch darin bestehen, für mehr Gleichheit zu sorgen. Das Wohlstandsversprechen glaubt keiner mehr, es wird bergab gehen. Und viele haben den Eindruck, sie sollen dafür aufkommen, während es anderen Schichten weiterhin gut geht. Letztere kassieren ab. Wer das wieder ändern möchte, muss dafür sorgen, in Bürgern nicht an jeder Stelle nur Goldesel zu sehen, die Münzen abwerfen.