Überfüllte Züge, Chaos vor den Stadien: Anders als die DFB-Elf erscheinen die EM-Veranstalter bisher wenig souverän. Deutschland, der nächste Europameister? Vielleicht. Organisationsweltmeister? Wohl kaum.
2,7 Millionen Zuschauer in zehn Stadien, zwölf Millionen Fußballverrückte in den Fan Zonen. So eine Europameisterschaft ist ein Event der Superlativen. Da ist die ein oder andere Panne vorprogrammiert.
Aber Reisechaos bei der An- und Abreise, Gerangel vor den Arenen, ein falsches Maskottchen beim Eröffnungsspiel, ein Engländer, der angeblich im Stadion übernachtet? In den ersten Tagen des Turniers ist von der sagenumwobenen deutschen Ordnung wenig zu spüren. Oder, wie der Sportteil der „New York Times“ kürzlich titelte: „Euro 2024 und deutsche Effizienz: Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten“.
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Das Lied von Bär
Es begann schon beim Eröffnungsspiel: Der Youtuber Marvin Wildhage fälschte bei der Partie Deutschland gegen Schottland eine Presseakkreditierung, schlüpfte in das Kostüm des EM-Maskottchens Albärt und spazierte unbehelligt in die Allianz Arena – bis zum Spielfeldrand (der stern berichtete)
Was nach einer harmlosen Anekdote klingt, ist nichts anderes als eine massive Sicherheitslücke. Der „Vorfall“, wie ihn die Uefa anschließend nennt, weckt nicht gerade Vertrauen – zumal sich einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge jeder zweite Deutsche vor einem Anschlag während der EM fürchtet. Immerhin, das Bundesinnenministerium gab sich zufrieden mit dem Turnierstart. Die erste Bilanz sei positiv, „die Sicherheitsmaßnahmen greifen“, sagte der Sprecher des Ministeriums.
… und Siebenschläfer
Dann der Tag nach der Bellingham-Show von Gelsenkirchen. Ein anonymer Engländer postet ein 20-sekündiges Video auf Tiktok, in dem er (offenbar mit einem prächtigen Hangover) behauptet, gerade erst aufgewacht zu sein. Um vier Uhr morgens. In der Veltins Arena. Der Clip geht viral. Die Verantwortlichen geraten in Erklärungsnot.
Stadionbetreiber Schalke 04 verweist auf die Uefa. Die behauptet, das Video sei eine Fälschung. Es sei doch „offensichtlich, dass dieses Video nicht während des Turniers oder sogar in den letzten Wochen aufgenommen wurde“, teilt die Europäische Fußball-Union auf Anfrage des stern schriftlich mit. Schließlich seien weder Beschilderung noch EM-Branding zu sehen. Ja, nicht mal Linienmarkierungen seien auf dem Rasen zu erkennen – was der Fall sein müsse, „wenn das Video tatsächlich in den Stunden nach dem Spiel aufgenommen worden wäre“.
Nach Recherchen von stern/RTL sind Teile der Erklärung jedoch fragwürdig. Denn Linien sind bei genauerem Betrachten sehr wohl zu sehen, auch stimmen die Muster am Videowürfel mit Fotos während der Partie überein. In einem zweiten Video sind die bunten EM-Elemente zudem auf den Banden deutlich zu erkennen.
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Unpünktlich wie ein Zug in Deutschland
Nach dem Match warteten tausende serbische und englische Anhänger stundenlang auf Straßenbahnen in Richtung Innenstadt – nur um dort zu stranden. Ein Sonder-ICE in Richtung Essen, Düsseldorf und Köln trudelte mit 70 Minuten Verspätung am Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein. Bis spät in die Nacht mussten manche Reisende ausharren. Schon bei der Anfahrt soll es Probleme gegeben haben: Die Uefa habe die Fans ins Abseits gestellt, schrieb ein Reporter des britischen „Guardian“. Seine eigene Anreise sei „nur eine Geschichte logistischer Inkontinenz unter vielen anderen“ gewesen. Von „miserablen Bedingungen auf dem Weg zu und von den Spielen“, schreibt auch die „New York Times“. Das sei nicht das, „was der Rest von Europa erwartet hat“, so die Zeitung.
Vom Abreisechaos wollten lokalen Betreiber zumindest nichts wissen. „Als Verkehrsunternehmen haben wir einen Job gemacht, der adäquat war“, sagte ein Sprecher der Nahverkehrsgesellschaft Bogestra dem „Spiegel“. Auch die Stadt wundert sich über die Empörung, es sei doch „alles perfekt gelaufen“. Die Deutsche Bahn räumte tags darauf immerhin „deutliche Rückstauungen“ ein.
Auch stern-Reporter durften das Transportchaos andernorts erleben. Am Münchner Odeonsplatz ging schon drei Stunden vor Anpfiff nichts mehr. Die Ordner an den Bahnsteigen: freundlich, aber hilflos. Auf dem Weg nach Fröttmaning blieben die proppenvollen Bahnen mehrfach auf der Strecke stehen, die Wagen glichen mobilen Großraumsaunas. In Berlin ähnliche Szenen. Hier wurden keine Extrazüge eingesetzt, um die zum Olympiastadion strömende Menschenmasse zu entzerren. Wer es doch in die U-Bahn schaffte, erlebte stickige Luft und defekte Fenster.
Chaos vor dem EM-Stadien
Vor der Partie Spanien gegen Kroaten kam es zu tumultartigen Szenen vor dem Berliner Olympiastadion. An den überfüllten Drehkreuzen fielen Menschen hin, andere trampelten über sie hinweg. Taschen wurden angesichts des Ansturms halbherzig kontrolliert, keine Zeit für Sicherheit. Ticketlose nutzten das Chaos, drängten sich johlend ins Stadion – um später die Notausgänge zu verstopfen. Die Ordner? Völlig überfordert. „Ist das eine Scheiße hier“, rief ein Einsatzleiter mit hochrotem Kopf. Wo der ihnen steht, das wussten viele freiwillige Helfer gar nicht erst. Viele hatten keine Ahnung, wo die Eingänge zum Stadion eigentlich sind, nach denen Fans sie fragten.
Auf erneute stern-Anfrage, ob es Probleme bei der Organisation gebe, bestätigt die Uefa lediglich, dass sich in München ein falscher Bär unautorisierten Zutritt zur Allianz Arena verschafft habe und bleibt beim Dementi in Sachen englische Übernachtungsgast. Ansonsten habe man „keine weiteren Anmerkungen zu machen“. Sie haben die Haare schön 17.51
Fußball gut, Ende gut?
Trotz allem stellt diese Heim-EM ein, zwei Stück weit den Glauben an den Fußball „von früher“ wieder her. Der scheint heimgekehrt in die Herzen derer, die ihm immer schon die Treue gehalten haben, Millionen von Fans geeint auf den Straßen, in den Stadien, vor den Fernsehern. Wenn, ja, wenn nur alles andere genauso gut klappen würde.
Denn am Ende muss sich das Turnier mit den anderen Europa- und Weltmeisterschaften vergleichen lassen, auch mit der WM in Katar. Dort, in der Wüste, unter den hundert Sonnen Dohas, war die Gesamtorganisation hervorragend, aber die Stimmung mies. In Deutschland ist es vielleicht genau andersherum.
Vielleicht fallen aber da, wo gewerkelt wird, eben immer auch Späne. Oder wie es Andreas Schär, der Uefa-Geschäftsführer der für die Organisation verantwortlichen Euro 2024 GmbH gegenüber der „Frankfurter Rundschau“ ausdrückt: „Ein so großes Turnier ist wie der Elefant, den man sich in den Porzellanladen einlädt.“