Der Bundeswehr fehlt der Nachwuchs. Deshalb will Boris Pistorius (SPD) den Wehrdienst neu regeln. Kommt die Wehrpflicht zurück?
Die Bundeswehr muss „kriegstüchtig“ werden. Das hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wiederholt betont. Ein entscheidender Baustein dabei: Die Truppe soll wieder mehr Soldaten bekommen. Am Mittwochnachmittag hat Pistorius dazu einen Plan vorgestellt. „Die Bedrohungslage ist eine völlig andere als noch vor wenigen Jahren“, sagte er dabei mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Was sieht Pistorius‘ Vorschlag vor?
Künftig sollen 18-jährige Männer sollen dazu verpflichtet werden, einen Online-Musterungsfragebogen auszufüllen. Pistorius geht hier von 400.000 Menschen pro Jahr aus. Darin sollen sie Angaben zu ihrer körperlichen Verfassung sowie ihrer Bereitschaft für einen Wehrdienst machen.
Pistorius rechnet damit, dass ein Viertel von ihnen grundsätzlich zum Dienst bereit sei. Zwischen 40.000 und 50.000 sollen dann verpflichtend zur Musterung eingeladen werden. Allerdings sollen sie weiterhin den Kriegsdienst verweigern können, so Pistorius. Auch 18-jährige Frauen sollen den Fragebogen erhalten. Allerdings sollen sie nicht zur Antwort verpflichtet sein und auch nicht zur Musterung erscheinen müssen, sollten sie eingeladen werden.
Dadurch sollen zunächst pro Jahr 5.000 zusätzliche Soldaten ausgebildet werden – zu den bereits rund 10.000 freiwilligen Wehrdienstleistenden. Pistorius zufolge würde dies 1,4 Milliarden Euro kosten. Die Ausbildungskapazitäten sollen anschließend schrittweise erhöht werden. Der Wehrdienst soll sechs Monate dauern mit der freiwilligen Option, diesen zu verlängern.
Damit einhergehen soll ein Ausbau der Erfassungs- und Rekrutierungsstrukturen. Diese waren nach dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 massiv abgebaut wurden. „Wir könnten im Verteidigungsfall nicht einmal mobilisieren, weil wir nicht wüssten, wen wir einziehen können“, so Pistorius. Dies sei ein „unhaltbarer Zustand“. Wie genau dies künftig gelingen soll, ließ er offen. Man werde jedoch „nicht wieder die alten Kreiswehrersatzämter auferstehen lassen.“
Die fehlenden Strukturen seien auch der „limitierende Faktor“, weshalb zunächst nur 5.000 zusätzliche Rekruten ausgebildet werden sollen. Wenn es nach ihm ginge, würden pro Jahr 20.000 neue Soldaten ausgebildet, sagte Pistorius.´
Eine Wehrpflicht würde es damit erst einmal nicht geben. Sollten sich nicht genügend Rekruten finden lassen, „müssen wir natürlich auch über eine verpflichtende Option nachdenken“, sagte Pistorius. Er gehe jedoch nicht davon aus, dass dies nötig sein werde.
Warum sollen Frauen nicht zur Musterung verpflichtet werden?
Pistorius argumentiert, dass für eine Verpflichtung von Frauen eine Grundgesetzänderung nötig wäre. Gleiches gelte für eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen. Solch ein Verfahren würde viel zu lange dauern, argumentiert Pistorius. Frühestens 2026 könne man sich damit beschäftigen. „Diese Zeit haben wir nicht.“ Allerdings: Für das Sondervermögen hat der Bundestag das Grundgesetz in dieser Legislaturperiode schon einmal rasch verändert.
Warum will Pistorius den Wehrdienst überhaupt reformieren?
Bis 2031 will die Bundeswehr auf 203.000 Soldaten zu wachsen. Doch von diesem Ziel ist sie sie weit entfernt. Mit 180.517 Soldaten ist die Truppenstärke auf dem niedrigsten Stand seit 2018. Und das hat vor allem einen Grund: Die Bundeswehr hat ein Nachwuchsproblem. Die Zahl der Bewerbungen ist seit Jahren rückläufig, gleichzeitig ist die Zahl der Abgänger zuletzt gestiegen. Dazu kommt, dass auch die Zahl der Reservisten seit Aussetzung der Wehrpflicht 2011 stark gesunken ist. Derzeit gibt es laut Pistorius noch 60.000 Reservisten. „Wir brauchen rund 200.000 Reservisten mehr.“
Die Zeit drängt. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, forderte vor Bekanntwerden der Pistorius-Pläne entschlossene Schritte für einen neuen Wehrdienst. „In den kommenden Tagen wird sich zeigen, bei wem seit Ausrufung der Zeitenwende zumindest verteidigungspolitisch tatsächlich eine Erkenntniswende eingetreten ist“, sagte der Verbandschef der dpa. Laut Informationen des „Spiegel“ geht das Bundesverteidigungsministerium sogar davon aus, dass die Verteidigungspläne der Nato ein Personalziel von „tendenziell deutlich über 272.000“ Soldaten erfordern.
Kann Pistorius‘ Plan die Personallücke schließen?
Davon geht nicht einmal der Minister selbst aus. „Wehrdienstleistende können niemals stehende Streitkräfte dauerhaft ersetzen“, so Pistorius. Allerdings hoffe er, dass duch die Einladung zur Musterung sich auch mehr junge Menschen für eine Laufbahn als Berufssoldat entscheiden. Das sei die Erfahrung aus den skandinavischen Ländern. An den dortigen Regelungen hatte sich Pistorius für sein eigenes Vorhaben orientiert.
Wie ist die Wehrpflicht aktuell geregelt?
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht neu entfacht. Eigentlich ist die Wehrpflicht im Grundgesetz verankert. Darin heißt es in Artikel 12a, dass Männer ab dem Alter von 18 Jahren zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden. Bis 2011 sah das so aus: Alle jungen Männer wurden gemustert. Wer nicht zur Bundeswehr wollte, musste einen Ersatzdienst leisten, zum Beispiel in Form eines Zivildiensts.
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes vor 13 Jahren ist die Wehrpflicht allerdings ausgesetzt. Solange der Bundestag nicht den sogenannten Verteidigungsfall oder dessen Vorstufe, den sogenannten Spannungsfall feststellt, müssen Männer keinen Wehr- oder Zivildienst leisten. In der Geschichte der Bundesrepublik ist dies noch nicht vorgekommen.
Wie geht es jetzt weiter?
Pistorius will das Gesetzgebungsverfahren bis zum Frühjahr 2025 abschließen. Über eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes muss der Bundestag entscheiden. Die FDP reagierte am Mittwoch zurückhaltend auf die Pläne des Ministers. Den Fragebogen halte er für eine gute Idee, sagte Alexander Müller, der verteidigungspolitische Sprecher der Liberalen. „Wenn es an eine Wehrpflicht light geht, dass man Menschen nach irgendwelchen Kriterien auswählt und verpflichtet, einen Wehrdienst zu machen, wird es mit den Freien Demokraten schwierig.“
Auch die Frage nach einer Verpflichtung von Frauen könnte noch zu Gesprächsbedarf führen. Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann schrieb auf der Plattform X, auch jüngere Frauen würden „im Sinne der Wehrgerechtigkeit“ einen Pflicht-Fragebogen ausfüllen müssen. „Die vom Minister forcierte Konzentration auf junge Männer dürfte nicht zu halten sein.“