Die „Generation Z“ ist frustriert und rutscht politisch nach rechts, so hieß es in der jüngsten Studie „Jugend in Deutschland“. Bei der Europawahl hat sich das bestätigt. Woran das liegt? Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald klärt auf.
Herr Grünewald, bei der Europawahl haben vor allem junge Leute rechts gewählt. Hat Sie das überrascht?
Nein. Das deutete sich schon in verschiedenen Studien wie der Jugendstudie 2024 an.
Die 16- bis 24-Jährigen haben zu je rund 17 Prozent AfD und Union ihre Stimme gegeben, das Bündnis Sahra Wagenknecht bekam sechs Prozent. SPD und Grüne zusammen erzielten gerade mal 20 Prozent. Gibt es Schlüsselereignisse, die zu diesem Ergebnis geführt haben?
Nein, das Ergebnis ist Teils eines generellen Prozesses. Die Gesellschaft ist in keiner Aufbruchstimmung, sondern resignativ. Sie blickt in den Rückspiegel und hofft, die Zustände, die sie kennt, zu stabilisieren.
Waren Jugendliche, historisch betrachtet, nicht immer eher links und träumten von einer besseren Zukunft?
In der jüngeren bundesdeutschen Historie ja, generell aber nicht. Die Jugend sucht stets die Grundfehler der Erwachsenen-Kohorte und entwickelt dann eine eigene Haltung dazu. Die muss nicht links sein. Jugendbewegung gleichzusetzen mit der 68er-Bewegung wäre falsch.
Warum laufen sie in Europa heute ausgerechnet den Grünen in Scharen davon? Wofür stehen die Grünen?
Die stehen für ein nachhaltiges, ökologisches Projekt, das aber bei den Jugendlichen, die es früher trugen, ins Hintertreffen geraten ist. Wir erleben gerade eine wachsende Selbstbezüglichkeit, man zieht sich ins Private zurück und ist nicht mehr bereit, die Komfortzone zu verlassen und etwas zu riskieren. Das aber verbindet man mit dem Programm der Grünen. Außerdem werden die Grünen für den Zoff in der Ampel mitverantwortlich gemacht, auf so etwas reagieren Jugendliche sehr sensibel.
Sind die Grünen vom Markenbild her zu autoritär?
Könnte man sagen. Sie waren tatsächlich in der Corona-Zeit diejenigen, die am meisten auf strenge Maßnahmen gepocht haben. So wurden die Jugendlichen die Leidtragenden und erlebten einen großen Bedeutungsverlust. Plötzlich waren nicht mehr Rezo und Greta die Wichtigen, sondern Drosten und Lauterbach. Und die Jugendlichen waren die ersten, die aus dem Verkehr gezogen und die letzten, die geimpft wurden.
Früher hieß es: „Wer als 20-Jähriger kein Linker ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Linker ist, hat keinen Verstand.“ Ist da etwas Wahres dran?
Das ist ein Spruch aus den 70er Jahren, der die heutige Lebensrealität der Jugendlichen überhaupt nicht mehr trifft.
Laut der Jugendstudie 2024 ticken die jungen Leute heute grundsätzlich eher rechts, nicht nur bei Europawahlen. Was ist los, besonders mit der „Generation Z“?
Man sollte nicht so tun, als tendiere die gesamte „Generation Z“ nach rechts. Wir unterscheiden in unseren Studien lieber zwischen verschiedenen Erwartungstypen. Der Typus des engagierten Optimisten ist transformationsfreudig und setzt sich für eine bessere Zukunft ein; dieser Typus ist seit dem letzten Jahr stark zurückgegangen. Der andere ist der enttäuschte Radikale; dessen Anzahl ist gestiegen – wie in der Gesamtgesellschaft. Teaser Grünewald
Wie gefährlich ist dieser Trend für eine liberal aufgestellte Gesellschaft?
Uns sollte bei der Jugendstudie vor allem zu bedenken geben, wie erschöpft die jungen Menschen sind. Welch resignative Haltung besonders sie an den Tag legen. Die Krisen der letzten Jahre – Klima, Corona und Krieg – haben ihre Wirklichkeit zum Teil auf den Kopf gestellt.
Wovor hat die „Generation Z“ am meisten Angst?
Ihre Grundangst, die sich schon in den Kindertagen entwickelt, resultiert aus der Erfahrung, dass überall im Freundeskreis Familien auseinanderbrechen und Patchwork-Verhältnisse entstehen: alleinerziehende Mütter, desertierende Väter. Dieses Damoklesschwert überschattet ihr Kinder- und Jugendalter. Es führt dazu, dass viele junge Leute den Auftrag verspüren, das familiäre System zu stabilisieren, statt zu revoltieren. Sie versuchen, mit ihrer sozialen Kleindiplomatie den Familienladen zusammenzuhalten.
Die Weltkrisen spielen also keine so große Rolle?
Auch. Noch vor wenigen Jahren dachten die jungen Menschen, mit dem Smartphone stehe ihnen die ganze Welt offen. Es schien, als könne man im Handstreich oder per Knopfdruck alles kontrollieren oder managen. Dann kam das Corona-Virus und aus der gefühlten Allmacht wurde eine tiefe Ohnmacht, da man von einem unsichtbaren Feind umgeben war, gegen den es keine Handhabe gab. Und dann kam der Ukrainekrieg, der ihre Furcht vor dem Zerbrechen vermeintlich stabiler Verhältnisse weiter verstärkte.
Wer in Berlin regiert, ist weniger entscheidend?
Der Dauerzank der Ampelkoalition triggert bei der jungen Generation die Angst, das auch das Bindungssystem von Vater Staat zerbrechen könnte. Die AfD bedient dann die Sehnsucht nach einer erlösenden Rückkehr in die vermeintliche Stabilität früherer Zeiten, nach klaren Schuldzuweisungen und nach einer umkümmerter Unbekümmertheit schamlos.
Die Jungen wollen andererseits weniger arbeiten, mehr Freizeit, mehr Zeit für Freunde.
Sie wollen weniger arbeiten, weil sie oft sehen, wie ihre Eltern unentwegt das Hamsterrad drehen. In diese besinnungslose Betriebsamkeit wollen sie keineswegs hineingeraten. Gleichzeitig ist für die Jungen das Privatleben viel anstrengender geworden. Es gibt für sie keine klaren Rollenzuweisungen mehr. Diese Diffusion erfordert ständig neue Rollenverhandlungen in den Beziehungen, was enorm viel Zeit und Energie frisst. Auch hier verheißt die AfD eine Rolle rückwärts in alte Rollenmuster.
Wie kommt die „Generation Z“ dennoch aus der Depression heraus?
Es findet sich kein Königsweg. In den Lockdown-Phasen sind viele Jugendliche zum Nesthocker geworden und haben sich in den Schoß der Familie zurückgezogen. Manche tun sich immer noch schwer da wieder rauszufinden. Andere sind vor dem Strukturverlust, den die Coronazeit mitbrachte, eskapistisch ins Internet geflüchtet, um in den sozialen Netzwerken Halt zu finden oder sich in medialen Rauschzuständen abzulenken. Die kommen natürlich etwa über Tiktok viel schneller mit der AfD in Berührung, weil die Rechten sie dort sehr geschickt vereinnahmen. Viele Jugendliche sind auch jenseits der sozialen Netzwerke meist nur in ihrem spezifischen Milieu unterwegs. Daraus erwächst Weltfremdheit und somit Fremdenangst, was wiederum der AfD in die Karten spielen kann.
Gibt es einen Lichtstreif am Horizont für die kommenden Wahlen, dass die resignative Stimmung sich wieder in eine zukunftsfreudige dreht?
Die Frage ist es: Gelingt es der Politik künftig, Projekte zu entwickeln, die Solidarität fördern. Den Jugendlichen fehlen sinnvolle Zielvorgaben, die können eine Wende bringen. Wir erleben ja gerade bei der Flutkatastrophe ein enorme Hilfsbereitschaft. Ich plädiere auch für ein soziales Pflichtjahr, durch das man seine engen Kreise verlässt und wieder mit fremden Menschen aus völlig anderen Milieus zusammenkommt und in sinnvollen Projekten gemeinsam etwas bewegt. Das macht toleranter und die jungen Menschen erleben sich als selbstwirksam und wehren damit ihre Angst vor der Ohnmacht ab. Zudem leisten sie einen Beitrag, dass die Welt nicht weiter auseinanderdriftet, indem sie mit anderen Menschen ins Gespräch kommen.
Das Interview erschien erstmals am 5. Mai 2024 und wurde nach der Europawahl ergänzt und aktualisiert.