EU-Wahlbeben: Nach der Klatsche für den Kanzler brodelt es in der SPD

In der SPD sitzt der Schock tief: Knapp 14 Prozent bei der EU-Wahl, ein neuer Negativrekord. Woran hat’s gelegen – und an wem? Auf Kanzler Scholz und die Parteispitze kommen unruhige Zeiten zu. 

Olaf Scholz lächelt eisern, als er von einem Bistrotisch zum nächsten zieht, das Gespräch sucht und in die Selfiekameras lächelt. Die Botschaft ist klar: Ich ducke mich nicht weg. 

Durch das Willy-Brandt-Haus ist soeben ein kleines Beben gegangen, das die Genossen erschüttert hat. Mit einem kräftigen Zuwachs bei der EU-Wahl hatte zwar niemand in der SPD gerechnet – aber damit? 14 Prozent zeigt der rote Balken an, damit noch weniger als 2019, dem bisherigen Negativrekord. 

Sigmar Gabriel, ehemaliger SPD-Parteichef, ist schockiert. „Weder für den katastrophalen Wahlkampf, noch für die völlig falsche Auswahl der Wahlaussagen und schon gar nicht für die Personalauswahl“ wolle jemand Verantwortung übernehmen, sagte er dem stern. „Das Ergebnis ist ein Schlag in die Magengrube“, sagt Juso-Chef Philipp Türmer dem stern, „aber wenn man ehrlich ist: einer mit Ansage“. 

Es herrscht Totenstille in der Berliner Parteizentrale, als die ersten Prognosen einschlagen. „Dramatisch“ seien die Ergebnisse, sagen die einen. Es brauche jetzt „Sozialdemokratie pur“. Und Scholz? Der Kanzler lächelt, plaudert, posiert. Alles halb so wild? Sicher nicht. Starke Erdbeben ziehen fast immer eine Serie kleinerer Erschütterungen nach sich – oder ein noch heftigeres Beben. 

Olaf Scholz: Hat das Ergebnis ein Gesicht?

Woran hat’s gelegen – und an wem? Darüber wird nun zu reden sein. Ein offensichtlicher Grund ist kaum zu übersehen, prominent und großflächig vor dem Willy-Brandt-Haus platziert, wie an so vielen Orten in der Republik: ein Wahlplakat mit Kanzler Olaf Scholz. 

Die Sozialdemokraten hatten Scholz in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gestellt, versucht, den Kanzler als umsichtigen und besonnenen Mann in stürmischen Zeiten zu positionieren. Doch weder der Friedens-Sound noch der Friedens-Kanzler haben mobilisiert. Letzteres wiegt deutlich schwerer. 

Denn das magere Ergebnis ist unweigerlich mit Scholz verknüpft (der gar nicht zur Wahl stand) und zeigt, dass Scholz womöglich eher ein „lahmer Gaul“ (Jens Spahn) denn Zugpferd ist. Ausgerechnet vor den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland und der Bundestagswahl im Herbst 2025.

Es spricht Bände, dass Generalsekretär Kevin Kühnert prompt betonte, dass die Niederlage nicht personifiziert werden könne. Er dürfte es auch in eigener Sache gesagt haben: Als oberster Wahlkampfstratege hatte er die Kampagne hauptsächlich zu verantworten.

Eine „bittere Niederlage“ sei das, betonen die Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken, auch EU-Spitzenkandidatin Katarina Barley spricht auf der Bühne in der Parteizentrale von einem „richtig bitteren Abend“. Man sieht ihr diesen Abend an, den Schock. Während Klingbeil andeutet, wohin die Reise nun gehen könnte, wandert ihr Blick erloschen durchs Atrium.

Kommentar EU Text 21.30

Dass die Partei etwas anders machen müsse, sei „glasklar“, sagt Co-Chef Klingbeil und kündigt eine schonungslose Analyse an. Dann zählt er Kernanliegen der SPD-Wählerschaft auf, von Mieten über Löhnen bis zu den Renten. Vom Frieden ist erstmal keine Rede mehr. „Unsere Leute wollen uns kämpfen sehen“, sagt Klingbeil. Das gelte auch für die Beratungen zum Haushalt 2025. Die SPD müsse „das Beste für unsere Leute“ rausholen. 

Es dürfte auch eine Botschaft an den Kanzler gewesen sein. Zu liefern, gegen alle Widerstände der Koalitionspartner, insbesondere der FDP. Klingbeil sagt eigentlich: Die SPD will Scholz kämpfen sehen und erwartet, dass er am meisten für die Partei rausholt. 

Der Kanzler hatte sich im Haushaltshandgemenge hinter FDP-Finanzminister Christian Lindner gestellt und zum Schwitzen aufgefordert, damit aber Sparen gemeint. Es gilt ein Milliardenloch zu stopfen, von dem manche in Berlin behaupten, es läge bei rund 30 Milliarden Euro. SPD und Grüne fordern eine Reform der Schuldenbremse, die FDP hält eisern dagegen. Lindner warnte am Samstag sogar vor einem Koalitionsbruch, nachdem SPD-Co-Chef Klingbeil zu scharfe Sparvorgaben kritisiert hatte. 

Nun haben die Sozialdemokraten die Faxen offenkundig dicke. Von den ewigen Gesetzesblockaden der FDP, ihren Angriffen auf sozialdemokratische Herzensthemen, nicht zuletzt der starren Haltung zur Schuldenbremse. Und offenbar auch vom Kanzler, von dem nun „mehr SPD“ in der Ampel eingefordert wird. Sie wollen wieder in die Offensive kommen, raus aus der Moderationsrolle, die Scholz verkörpert.

„Demokratigefährdender Sparhaushalt von Lindner“

Mehrere Genossen mahnen einen Kurswechsel an, wählen teils drastische Worte nach dem Wahlbeben – nehmen aber nicht nur Scholz in die Pflicht, sondern auch die Parteispitze.

„Es ist falsch, alles der Regierung in die Schuhe schieben zu wollen“, sagt Ex-SPD-Chef Gabriel, obwohl diese klar abgestraft worden sei. Ihn mache etwas anderes „traurig und wütend“: „Zusehen zu müssen, wie nach einer solch bitteren Niederlage die professionellen Gesundbeter und Ja-Sager schon vorbereiten, wie man spätestens übermorgen wieder zur Tagesordnung übergehen kann.“ Das Wort „Verantwortung“ komme im „zurecht gedrechselten Polit-Technokraten-Sprech“ nicht vor, stets sei lediglich die Rede von genauen Fehleranalysen. „Offenbar denken alle nur daran, morgen irgendwie noch auf ihren Sesseln sitzen zu bleiben“, sagt Gabriel. 

Auch Juso-Chef Türmer wählt deutliche Worte. Weder die SPD, noch die anderen Ampel-Parteien hätten Antworten auf den massiven Pessimismus in der Gesellschaft gefunden, sagt Juso-Chef Türmer. Es brauche nun ein Fortschrittsversprechen für das Land sowie ein klares Aufstiegsversprechen für jeden einzelnen, fordert Juso-Chef Türmer. „Das funktioniert aber nur, wenn man als SPD diesem demokratiegefährdenden Sparhaushalt von Lindner eine Absage erteilt.“ Die Schuldenbremse müsse abgeschafft werden, Wirtschaft und Sozialstaat gestärkt, die Klimakrise konsequent bekämpft. „Der Bundeshaushalt 2025 muss genau dafür genutzt werden.“ 

Blitzanalyse 1935

Auch Sebastian Roloff, Mitglied im Parteivorstand, beklagt ein „dramatisches Ergebnis“, bei dem sich klar gezeigt habe, dass die Kampagne „nicht funktioniert hat“. Der Kanzler und seine Moderationsfähigkeiten seien nicht der einzige Pfeil im Köcher der SPD. Für die Haushaltsverhandlungen mahnt Roloff „mehr soziales, mehr Wirtschaftsförderung, mehr SPD“ an. Ähnlich argumentiert Jan Dieren aus dem Leitungskreis der Parlamentarischen Linken in der SPD-Fraktion. „Von einer SPD-geführten Regierung erwarten Menschen sozialdemokratische Politik. Zurecht.“ Das passe aber schlecht zur Aussicht, dass der Haushaltsentwurf weitreichende Kürzungen vorsehe. Es brauche jetzt „Sozialdemokratie pur“. 

Liefern soll sie der Kanzler. Der Versuch, mit Besonnenheit zu punkten, ist offenkundig missglückt. Ein Strategiewechsel muss her, so viel scheint klar. Am Montag steht die Vorstands- und die Präsidiumssitzung an. Die ersten Nachbeben? 

Am späteren Sonntagabend lösen Hochrechnungen die Prognosen ab. Die SPD ist weiter abgesackt, auf 13,9 Prozent.