Wenn Mächte wie China sich für EU-Abgeordnete interessieren, hat das Gründe. Denn die Volksvertreter haben in immer mehr Wirtschaftsfragen, darunter dem internationalen Handel, ein Mitspracherecht.
Haben Europaabgeordnete oder ihre Mitarbeiter Geld aus Katar, China oder Russland angenommen? Solche Fragen beschäftigen momentan Ermittler. Nicht-EU-Staaten versuchen zunehmend, Europa zu beeinflussen und zu manipulieren – und könnten dafür auch europäische Volksvertreter eingespannt haben.
Die Untersuchungen zum Katar-Gate, dem Korruptionsskandal von 2022 um die griechische Vizepräsidentin Eva Kaili, laufen noch. Mittlerweile wird in anderer Sache gegen einen Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah ermittelt: Jian G. steht im Verdacht, im Auftrag eines chinesischen Geheimdienstes „wiederholt Informationen über Verhandlungen und Entscheidungen im Europäischen Parlament“ weitergegeben zu haben. Die Bundesanwaltschaft spricht von einer „Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall“. Auch Krahs Mitgliedschaft im Ausschuss für internationalen Handel könnte das Interesse mutmaßlicher chinesischer Spione geweckt haben.
Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ verneinte Krah zwar, dass Jian G. Zugang zu als geheim eingestuften Dokumenten gehabt habe. Doch werfen die Vorwürfe auch ein Schlaglicht darauf, dass das Europaparlament in der Wirtschaftspolitik eine viel wichtigere Rolle spielt, als gemeinhin wahrgenommen – bis hin zur Kontrolle von geopolitisch sensiblen Daten. Die Befugnisse der demnächst 751 Vertreter sind nicht zu unterschätzen. Zwar haben sie kein Vetorecht, sie sind aber im Austausch mit EU-Kommission und Ministerrat an vielen Weichenstellungen beteiligt. Ein Überblick:
1. Außenhandel
Neue Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittstaaten verhandelt die EU-Kommission im Auftrag der Mitgliedstaaten, die dafür ein Mandat erteilen. Schon dieser grundlegende Auftrag bleibt häufig geheim. Um sich von der Gegenseite taktisch und strategisch nicht in die Karten schauen zu lassen, wird auch Stillschweigen über die Inhalte der Verhandlungen bewahrt – etwa über angestrebte Marktzugänge oder heikle Fragen der Lebensmittel- und Umweltstandards. EU-Abgeordnete erhalten Einblick in konkrete Textpassagen oder Positionspapiere, wenn auch beschränkt und mit der Verpflichtung zur Geheimhaltung. Das Parlament hat zudem das Recht, Änderungen an den Mandaten vorzuschlagen.
Ohne die Zustimmung des Parlaments zum Verhandlungsergebnis von EU-Kommission und Ministerrat, können Handelsabkommen der EU nicht in Kraft treten. Das gibt den Abgeordneten ein Druckmittel an die Hand, Inhalte zu beeinflussen. Das Freihandelsabkommen mit Vietnam beispielsweise, das vom Parlament 2020 grünes Licht erhielt, enthält als erstes Abkommen seiner Art Bestimmungen über die ökologische, soziale und demokratische Nachhaltigkeit. Auf Drängen der Volksvertreter verpflichtet sich Vietnam, Arbeitnehmerrechte zu verbessern: durch die Ratifizierung von Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation zur Abschaffung der Zwangsarbeit und zur Vereinigungsfreiheit.
An dem 2017 vorläufig in Kraft getretenen Handelsabkommen mit Kanada (CETA) hat das Parlament Änderungen durchgesetzt, um Arbeitnehmer-, Verbraucherrechte und Umweltstandards zu verbessern. Ökonomen fordern die Parteien zur Europawahl auf, mutig für neue Abkommen mit strategischen Partnerländern einzutreten, um die geopolitische Position der EU – auch im Hinblick auf die Versorgung mit unverzichtbaren Rohstoffen – zu stärken, darunter mit Australien, Malaysia und den Mercosur-Staaten.
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2. Haushalt
Die Volksvertretung hat erheblichen Einfluss auf die finanziellen Prioritäten der EU, weil sie Änderungen im EU-Haushalt der EU-Kommission vorschlagen kann und den Etat abschließend genehmigen muss. Bei den Verhandlungen im Jahr 2020 über das größte mehrjährige Finanzpaket in der Geschichte der EU erreichten die Abgeordneten beispielsweise eine Aufstockung der Mittel für Leitprogramme wie EU4Health (Gesundheit), Horizon (Forschung) und Invest EU (Investitionsprogramm) um 16 Mrd. Euro. Dabei setzte das Parlament mehr Geld durch für Umweltziele und mittelständische Firmen, die unter der Coronapandemie gelitten haben.
Das Programm Invest EU sieht 26 Mrd. Euro Garantien im EU-Haushalt vor. Damit sollen strategische Investitionen aus privater und öffentlicher Hand im Umfang von 400 Mrd. Euro 2021-27 angestoßen werden. Invest EU ist Bestandteil des Wiederaufbaufonds Next Generation EU. Mit diesem Konjunkturprogramm im Umfang von 750 Mrd. Euro will die EU die Folgen der Coronakrise abfedern und die europäische Wirtschaft widerstandsfähiger machen. Das Geld ist vor allem gedacht für die Förderung des digitalen und grünen Wandels. Auf Drängen des Parlaments sind 30 Prozent der EU-Gelder für den Klimaschutz bestimmt.
3. Wettbewerbspolitik
Ein wettbewerbsorientierter Markt soll Motor für Qualität, niedrige Preise und Innovationen sein. Das EU-Parlament hat dabei den Anspruch, dass der Binnenmarkt funktioniert und die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher geschützt werden. Dafür überwacht es auch die Wettbewerbspolitik der EU-Kommission, kann Verstöße untersuchen und Prüfaufträge vergeben.
So werden im jüngsten Jahresbericht über die Wettbewerbspolitik kürzere Kartellverfahren gefordert. Außerdem wird vor einem Subventionswettlauf mit dem „US-Inflation Reduction Act“ gewarnt und angemahnt, dass staatliche Beihilfen nur gezielt, befristet und mit einem Mehrwert für strategisch wichtige Projekte gewährt werden dürften.
Das Parlament gehörte auch zu den ersten Institutionen, das sich zum Schutz europäischer Online-Nutzer vor der Dominanz der US-Techkonzerne zugunsten von Regeln für Online-Plattformen ausgesprochen hat. In einer Erklärung wurden EU-Anforderungen für digitale Rechte und Grundsätze formuliert. Darauf folgte die Mitgestaltung der als wegweisend geltenden Gesetze für digitale Dienste und für digitale Märkte sowie der weltweit erste umfassende Versuch, die Künstliche Intelligenz zu regulieren. So leistet das Parlament seinen Beitrag gegen eine drohende Marktkonzentration und -beherrschung.
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4. Industriepolitik
In den vergangenen Jahren spielte Wirtschaftspolitik in der EU vor allem für die grüne und digitale Transformation eine wichtige Rolle. Der European Green Deal von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bildet hier den Rahmen. Sie bewirbt sich gerade um eine zweite Amtszeit. Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, ist auch die Industriepolitik wesentlicher Bestandteil des Green Deals.
Einzelne Teile des Green Deals wurden vom Parlament verwässert, teilweise sogar aus von der Leyens eigener EVP-Parteienfamilie. Der Deal gilt als angeschlagen. Während in den vergangenen Jahren in der Volksvertretung parteiübergreifend ein breiter Konsens für Klima- und Umweltschutzmaßnahmen herrschte, werden grüne Lösungen künftig – auch im Europaparlament – stärker auf ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit abgeklopft werden. So zumindest die Einschätzung von Wissenschaftlern. Sollte die Wahl einen Rechtsruck ergeben, könnten Teile des Green Deals entweder nicht weitergeführt oder gar rückabgewickelt werden.
Nach der Wahl bekommt es das Parlament mit den sich abzeichnenden Prioritäten der Staats- und Regierungschefs zu tun, die im April einen neuen „Deal für Wettbewerbsfähigkeit“ verabschiedet haben. Binnenmarkt, Bürokratieabbau, Forschung und Innovation sowie Handel lauten die Stichworte dieses Deals.
5. Nachhaltigkeitspolitik
Viel Gegenwind erntete das europäische Gesetz für unternehmerische Sorgfaltspflichten entlang der Lieferketten (CSDDD), das tatsächlich schon im Aktionsplan der Kommission für „Sustainable Finance“ von 2018 auftauchte. Für den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft gingen aus dem Plan erweiterte Pflichten für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen und die EU-Taxonomie hervor. Die erste Position des Europaparlaments zum CSDDD enthielt unzählige Verschärfungen – insgesamt wurden 381 Änderungsvorschläge eingebracht, die in zähem Ringen mit EU-Kommission und Ministerrat ausgehandelt wurden. Am Ende wurde die Richtlinie zu den menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten im Ministerrat noch entschärft, aber sie ist nun endgültig verabschiedet.
Das Europaparlament hat immer wieder striktere Rechenschaftspflichten von Unternehmen gefordert – die sozialdemokratische Berichterstatterin für die CSDDD sprach von einem Wendepunkt im Verständnis der Rolle von Frimen in der Gesellschaft: Die Zukunft gehöre Unternehmen, die Mensch und Umwelt nachhaltig behandeln, und nicht solchen, die aus Ausbeutung und Umweltschäden ein Geschäftsmodell gemacht hätten. In diesem Sinne wurden in der Legislaturperiode auch eine Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten, über Konfliktmineralien sowie über ein Verbot von in Zwangsarbeit hergestellte Produkte auf dem EU-Markt verabschiedet.