Wohnraum ist eigentlich genug für alle da, die Flächen sind nur falsch verteilt, findet unser Autor. Es wäre viel wichtiger, über eine reizvolle Umverteilung nachzudenken, statt immer mehr Milliarden in Beton zu investieren, wie beim heutigen „Tag der Bauindustrie“ gefordert wird.
Wieder einmal schrillen die Sirenen: Deutschland drohe eine „verstärkte Wohnungsnot.“ So warnt Peter Hübner, Präsident der Bauindustrie, zur Einstimmung des „Tags der Bauindustrie“ an diesem Mittwoch. Die Baubranche hat für das Ereignis, bei dem auch der Kanzler Rede und Antwort steht, eine Studie beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Auftrag gegeben. Demnach klafft bei den jährlichen Bauinvestitionen eine Lücke von 512 Milliarden Euro. Jedes Jahr, so die Kölner Experten, müssten die Ausgaben um real 20 Milliarden Euro steigen.
Klingt plausibel. Wer würde daran zweifeln? Die üblichen Kommentare: Dramatisch! Unverantwortlich! Politikversagen!
Ist das so? Oder doch nur Panikmache einer Branche, die sich langfristig Aufträge sichern will? Zugegeben, es gibt ohne Zweifel zu wenige Wohnungen, wenn man die aktuelle Nachfrage zugrunde legt. Das lässt sich statistisch genau so leicht belegen wie der Umstand, dass es immer viel zu wenig Liegen am Pool gibt, obwohl doch alle Urlauber sie wollen. Das soll nicht zynisch klingen, sondern ein Kernproblem verdeutlichen: Die Ansprüche der Deutschen an Lage und Größe ihrer Wohnungen steigen schneller, als man das Angebot ausbauen kann – selbst wenn genug Geld, Arbeiter und Grundstücke vorhanden wären.
Der Wohnraum pro Mieter hat sich mehr als verdoppelt
Man kann die Entwicklung sehr gut an den Aufzeichnungen des Statistischen Bundesamts ablesen. Vor 60 Jahren, als das Wirtschaftswunder schon fast gelaufen war, lebten die Deutschen rechnerisch auf 22,3 Quadratmeter pro Person. Heute sind es 47,7 Quadratmeter, also mehr als das Doppelte. Staat und Privatwirtschaft haben immer versucht, diesen Ansprüchen Rechnung zu tragen. Seit Beginn der Baustatistik wurden jährlich im Schnitt 405.000 neue Wohnungen gebaut, einmal waren es sogar über 700.000.
Die Folgen lassen sich an den großflächig versiegelten Regionen und gewucherten Städten schmerzlich ablesen. Seit 1950 hat sich die Zahl der Wohnungen von 15,8 Millionen auf über 43 Millionen fast verdreifacht. Nachhaltig geht anders. Logo, glauben viele, es gab keine Alternative, da die Bevölkerung entsprechend wuchs. Nein. Die Einwohnerzahl stieg deutlich langsamer, seit 1950 gerade mal um 39 Prozent von 69 auf 84 Millionen.
In nur noch 0,5 Prozent der Haushalte leben drei Generationen
Anders ausgedrückt: Deutschland hat eigentlich kein eklatantes Problem mit dem Wohnraumangebot, die Flächen sind nur falsch verteilt. Im Durchschnitt leben heute zwei Personen in einer Wohnung, etwa jeder sechste Deutsche wohnt sogar allein. Drei Generationen unter einem Dach, früher ein üblicher Lebensentwurf, gibt es nur noch in 0,5 Prozent aller Haushalte.
Am bequemsten hat es sich die Gruppe „Zwei Erwachsene ohne Kinder“ eingerichtet. Nur 2,7 Prozent ihrer Heime sind nach Definition der „europäischen Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen“ (EU-SILC) „überbelegt“. Bei Haushalten mit Kindern ist es enger, hier liegt die Überbelegungsquote bei knapp 15,9 Prozent (was meist nur heißt, dass nicht alle Kinder ein eigenes Zimmer haben). Insgesamt steht Deutschland aber deutlich besser da als der EU-Durchschnitt (17,1 Prozent). Die Letten zum Beispiel verzeichnen eine Überbelegungsquote von über 42 Prozent – und sind laut europäischem Statistikamt dennoch viel glücklicher als die Deutschen.
Manchmal erzeugen Statistiken vom Wohnungsmarkt ein falsches Bild
Wohnungsnot ist zudem immer eine Definitionsfrage. Es ist noch nicht lange her, da waren Singles stolz auf ein schickes, urbanes „Ein-Zimmer-Appartement“. Heute taucht genau dieses Appartement in der Wohnstatistik als „überbelegt“ auf und fällt unter die Mahnmale einer grassierenden Wohnungsnot. Denn nach EU-SILC-Definition muss in einem Einpersonenhaushalt ein zweiter Raum vorhanden sein, damit die Wohnsituation nicht als bedenklich einzustufen ist. Und sei das Ein-Zimmer-Appartement auch noch so groß.
Was ist die Konsequenz aus den Erkenntnissen? Keine Frage: Zum einen muss weiter gebaut werden, vor allem Wohnungen für sozial Schwache in Großstädten, die öffentliche Hilfe brauchen. Dieser grundgesetzliche Auftrag steht in der Verantwortung von Kommunen, Ländern und Bund. Und in diesem Feld liegt das Hauptversagen in der Vergangenheit, als öffentliche Verwaltungen ihre Sozialwohnungen reihenweise verscherbelten, um die Stadtkasse aufzufüllen.
Zum anderen sollten wir – schon wegen der Nachhaltigkeit – noch viel stärker darüber nachdenken, wie wir den reichlich vorhandenen deutschen Wohnraum besser bewirtschaften können, anstatt, wie die Baubranche, nur immer mit frischem Beton und neuen Ziegeln zu kalkulieren. Vielleicht fallen jemandem endlich kluge Lockmittel ein, mit denen man Menschen, die viel zu viel Wohnraum belegen, verführen könnte, für andere Platz zu machen.
Warum keine Steuerbefreiung für „kleiner wohnen?“
Eltern, deren Kinder ausgezogen sind, zum Beispiel. Warum nur Steuerbefreiung fürs Elektroauto und nicht für „kleiner wohnen“? Oder Wohngemeinschaften für die Älteren, die bundesweit ohnehin die größten Behausungen belegen. Warum nicht neue Wohnformen staatlich sponsern, statt in Neubauten zu investieren? Sicher: Wohnungswechsel aus Solidarität klingt erst mal utopisch. Aber das sollte niemandem vom Nachdenken abhalten. Andere Staaten sind da bereits viel kreativer. Die altersfreundlichen Dänen etwa fördern seit Jahren Alten-WGs. Diese modernen Wohnkonzepte sind sehr gefragt und bezahlbar. Altenheime, vor denen sich die Deutschen fürchten und deshalb oft in ihren Großwohnungen verharren, baut Dänemark schon seit 1987 nicht mehr.
Man könnte sogar nahezu Undenkbares versuchen: In Köln hat das Studierendenwerk vor Jahren in einem großen Wohnheimkomplex die Wände zwischen den Acht-Quadratmeter-Kemenaten herausgebrochen, um 16-Quadratmeter-Buden zu schaffen. Weil sonst selbst Erstsemester kaum mehr dort einziehen wollten. Vielleicht könnte man die Wände noch einmal neu ziehen – wegen der Wohnungsnot der Studierenden. Aus zweimal 16 Quadratmetern könnten dreimal 10,6 Quadratmeter werden, die zudem billiger zu mieten sind. Damit wüchse das Wohnheimangebot für Notleidende schlagartig um 50 Prozent.