Europa wählt ab Donnerstag ein neues Europaparlament für die nächsten fünf Jahre. Welche Anliegen und politischen Ziele hat die EU vor sich? Ein Überblick.
Am 6. Juni beginnt die Europa-Wahl in den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), in Deutschland wird am 9. Juni abgestimmt. Es geht um insgesamt 720 Mandate im Europäischen Parlament für die nächsten fünf Jahre. Das neu zusammengestellte Parlament wird eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung und Umsetzung von politischen Zielen spielen.
Gemeinsam mit den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten (der sogenannte Europäische Rat) und der Kommission (das Exekutivorgan der EU) verhandelt und entscheidet das Parlament über Gesetze, die die europäische Politik bestimmen und den EU-Markt mit fast 450 Millionen Menschen regeln.
Im Folgenden eine Übersicht der Ziele, die die kommende Legislaturperiode bestimmen werden:
Eine klimaneutrale EU bis 2050
Ziel der Klimaschutz-Agenda ist, dass die EU bis 2050 klimaneutral agiert. Das heißt, dass in der Union nur so viel CO2 ausgestoßen wird, wie an anderer Stelle Schritte zur Kompensation in gleicher Höhe unternommen werden. Nach ihrer Amtsaufnahme im Jahr 2019, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Blick auf den sogenannten Green Deal von einem „Mann-auf-dem-Mond-Moment“ für Europa gesprochen und 100 Milliarden Euro an Investitionen zum Schutz der Umwelt über die kommenden Jahre versprochen. Im Vorfeld der diesjährigen Wahl und mit Blick auf die Bauernproteste der vergangenen Monate ist ihre EVP-Fraktion jedoch skeptischer gegenüber dem grünen Vorstoß geworden. So erklärte der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber zu Jahresbeginn, dass man nach der Europawahl den Inhalt der bisherigen Agenda „auf den Prüfstand“ stellen wolle. An dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 wolle man dennoch festhalten.STERN PAID 22_24 Letzte Generation Europawahl 08.52
Eine Energieunion
Die Energiewende innerhalb der EU soll laut Kommission mittels der Schaffung einer Energieunion unterstützt werden. Angestrebt wird eine nachhaltige und sichere Energieversorgung zu bezahlbaren Preisen für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger. Eine Strategie dafür wurde von der EU-Kommission bereits 2015 vorgelegt. Dabei stehen Versorgungssicherheit, Dekarbonisierung und ein integrierter Energiebinnenmarkt zentral. Russlands Angriff auf die Ukraine hatte 2022 zu einer beispiellosen Energiekrise in Europa geführt und das Ziel damit wieder hoch auf die Agenda gesetzt.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
Um mit den USA und China in Fragen der grünen Technologien und der künstlichen Intelligenz (KI) konkurrenzfähig zu werden, soll der EU-Binnenmarkt gestärkt werden. Zu diesem Zweck hatte der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta während eines Gipfels im April Vorschläge präsentiert. Die 27 Staats- und Regierungschefs hatten sich daraufhin auf Reformen in neun Bereichen geeinigt. Dazu gehörten eine rasche Verbesserung der Möglichkeiten für EU-weite Investitionen in Aktien und die Schaffung eines einfachen grenzüberschreitenden Sparprodukts für Kleinanleger.
Unklar blieb allerdings, woher das Geld für die Reformen kommen soll. Letta schätzte in seinem Bericht, dass die EU bis 2030 jährlich rund 650 Milliarden Euro an privaten Geldern benötigt, um den Übergang von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energiequellen sowie die Digitalisierung der Wirtschaft zu ermöglichen. Der Schlüssel zur Finanzierung könnte die seit Jahren angedachte Verzahnung der Kapitalmärkte in Europa sein, so Letta.Europawahl Kandidaten Karussell iFrame
Eine Kapitalmarktunion
Die sogenannte Kapitalmarktunion soll für die Finanzierung und damit für das Erreichen der gesetzten Ziele sorgen. Zudem gelten die zersplitterten Finanzmärkte in Europa als großer Wettbewerbsnachteil gegenüber den USA oder Asien. Die EU redet seit vielen Jahren über das Thema. In der Praxis stehen einer Kapitalmarktunion sehr unterschiedliche nationale Gesetze entgegen – unter anderem zu Insolvenzen, der Besteuerung von Kapitalgewinnen oder Börsengängen. Frankreich würde gerne mit einer kleinen Gruppe von EU-Staaten starten, Deutschland pocht eher auf einen breiteren Ansatz mit allen EU-Staaten.
Beim EU-Gipfel im April bekannten sich zwar alle Staats- und Regierungschefs zur Kapitalmarktunion. Allerdings betonten etliche kleinere Staaten Vorbehalte gegen Elemente wie eine europäische Finanzaufsicht oder eine Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung. Eine Kapitalmarktunion müsse Priorität haben, um mehr privates Kapital für Investitionen zu mobilisieren, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im vergangenen Monat. Er werde zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Reformvorschläge vorlegen.
Stärkung der Rüstungsindustrie
Die derzeitige EU-Kommission schlägt ein milliardenschweres Programm für die europäische Rüstungsindustrie vor. Finanziert werden sollen die dafür angepeilten 1,5 Milliarden Euro von 2025 bis 2027 aus dem EU-Haushalt, wie die Kommission im März mitteilte. Sie fordert die EU-Staaten zugleich auf, bis 2030 mindestens 40 Prozent ihrer Rüstungsgüter gemeinsam zu beschaffen. Ein Teil der Gewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten soll zudem zur Finanzierung von Waffenkäufen für die Ukraine verwendet werden. Außerdem will Kommissionschefin von der Leyen im Falle einer zweiten Amtszeit den Posten eines eigenen Verteidigungs-Kommissars schaffen. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit hatte jedoch von einer „gewissen Skepsis“ der Bundesregierung gegen solche Pläne gesprochen.
Ein langfristiger Haushaltsplan
Gemeinsam mit den nationalen Regierungen wird das EU-Parlament über die mittelfristige Finanzplanung von 2028 bis 2034 verhandeln und entscheiden. Diese liegt derzeit bei rund 1,1 Billionen Euro. Beobachter und Experten rechnen jedoch mit einer möglichen Erhöhung sowie mit der Umschichtung von Geldern. Das hat vor allem mit geänderten Ausgabeprioritäten zu tun sowie mit einer möglichen EU-Erweiterung in den kommenden Jahren durch den Beitritt von Ländern wie Montenegro oder Nordmazedonien.
Interne Reformen
EU-Spitzenpolitiker sowie einige Staats- und Regierungschefs plädieren für strukturelle Reformen, bevor große Länder, wie die Ukraine, dem Block beitreten können. Das Parlament wird bei der Gestaltung solcher Reformen in den kommenden fünf Jahren eine wichtige Rolle spielen. Dabei stehen die Umgestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik sowie die Angleichung des Lebensstandards in den verschiedenen Mitgliedsstaaten im Mittelpunkt. Auch Bundeskanzler Scholz ist einer der Befürworter solcher Reformen. Er plädiert vor allem für ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, da dies dazu führe, dass einzelne Länder wichtige Entscheidungen blockierten oder verzögerten.