Nach der Evakuierung des Örtchens Diedorf wagen sich einige Bewohner zurück in ihre Häuser – drinnen ist kaum noch etwas zu retten.
Sie war noch kurz einkaufen, sagt Anna Braunmiller, damit sie Essen im Haus haben. Sie hat noch eine Ladung Wäsche angeschmissen. Das war gestern Vormittag, als das Wasser im Bach hinter ihrem Haus langsam anstieg. Niemals hätte sie gedacht, dass es noch so viel höher steigen würde. „Es ist eine Katastrophe. Ein Alptraum“, sagt Braunmiller mit glasigen Augen. Hinter ihr tragen zwei Männer eine Tür aus ihrem Haus. Die könne man wegwerfen, sagt einer von ihnen. Man sieht auf ihr die Linie, die das Wasser im Haus hinterlassen hat, diese Dreckkante, die sich auch an den Wänden entlang zieht, an der Fensterfront, an den Backsteinen. Fast einen Meter hoch stand das Wasser im Haus.
20.000 Helfer sind im Einsatz
Immerhin regnet es nicht mehr. Tagelang hatte es geregnet, viel mehr, als der Boden aufnehmen konnte. Gut 3000 Menschen mussten in Bayern bislang ihre Häuser und Wohnungen verlassen und sich in Sicherheit bringen. Allein im Landkreis Augsburg wurde für Straßenzüge von gut einem Dutzend Ortschaften die Evakuierung angeordnet. Das bayerische Innenministerium spricht von insgesamt rund 20.000 Helfern, die derzeit im Einsatz seien.
Am Sonntagvormittag lässt sich schon wieder erkennen, dass sie eigentlich in einem Idyll wohnen, Anna Braunmiller, ihr Mann Tobias und die beiden Kinder im Teenager-Alter. Der Bach im Garten, darüber die tiefhängenden Äste vieler Bäume, das sattgrüne Gras. Im Hintergrund ein gezwirbelter Kirchturm, ein Storchennest samt Storch.
Sie retteten noch schnell die Katzen und dann bloß weg
Gestern Mittag kam die Nachricht: Der Damm ist gebrochen. Sie mussten weg. Papiere, Geldbeutel, Handy – an mehr habe sie in dem Moment nicht gedacht, sagt Braunmiller. „Man realisiert das erst gar nicht, was passiert.“ Ihr Sohn habe nur Schlappen angehabt. Am Abend, als der Scheitel des Hochwassers durchgezogen war, konnten sie kurz in die Wohnung. Da habe das Wasser im Haus noch bis zu den Knöcheln gestanden. Sie holten die Katzen, die sie im oberen Stock eingesperrt hatten, und das Nötigste für die Nacht bei Verwandten.
Gärten und Häuser in der Region sind überflutet
© Rebecca Stegmann
Und jetzt? „Alles ist kaputt“, sagt Braunmiller. Ihre Waschmaschine steht draußen vor dem Haus, ein Helfer nimmt sie gerade auseinander. Kurz vor acht Uhr am Sonntagmorgen, nach einer Nacht, in der sie kaum geschlafen hat, konnten Braunmiller und ihre Familie wieder nach Hause. Offiziell gilt die Evakuierung weiterhin, heißt es vom Landkreis Augsburg, der Bürgermeister von Diedorf habe die Menschen aber zurück in ihre Häuser gelassen.
Über ein Dutzend Helfer laufen durch das Haus, manche in Feuerwehrkluft, manche in Jeans. Sie tragen Kabeltrommeln, nehmen verdreckte Gardinen ab, wischen und schütten. Sie umarmen sich, versuchen den Kopf und die Stimmung hochzuhalten. Noch können sie der Trauer mit Tatendrang begegnen. Sie schleppen alles, was eine Familie so ansammelt, nach draußen, auf den Platz vor dem Haus.
Die Aufforderung zur Evakuierung kam um 13 Uhr
Eine durchnässte Diddl-Maus liegt dort, neben einem Gelben Sack voller Kuscheltiere. Eine Spielzeugyacht, auf deren Plastikdeck sich der Dreck gesammelt hat. Eine Hantelbank. Triefende Decken und Klamotten. Dreckverkrustete Sektflaschen, Backbleche, Einmachgläser, Bierkrüge und eine Kiste mit Weihnachtsbaumkugeln. Stühle werden nacheinander nach draußen gereicht, ein Helfer spritzt sie mit einem Schlauch sauber, dann landen sie in der angrenzenden Halle zum Trocknen. Auch eine Kommode schleppen sie nach draußen, in ihr scheppert etwas, aber die oberen Schubladen lassen sich nicht mehr aufziehen. Über die Köpfe der Helfer rattert ein Helikopter hinweg, sie beachten ihn nicht weiter.
Ein Mieter vom Haus gegenüber schaut ungläubig auf den Bach hinter dem Haus der Braunmillers. Er ist immer noch eine braune, rauschende Masse. „Der ist normalerweise vielleicht anderthalb Meter breit“. Er zeigt zwei Fotos auf seinem Handy: Auf einem ist das Wasser noch nur im Garten, auf dem zweiten ist schon alles braun, auch der Hof, in dem sie jetzt die Sachen sammeln. Nur zwanzig Minuten hätten zwischen den zwei Bildern gelegen, meint der Mann. „Dann mussten wir weg.“
Hier ist wenig zu retten: Ein Bagger schaufelt zerstörten Hausrat in einen Container
© Rebecca Stegmann
Erst brach ein Deich an einem Weiher, kurz darauf ein Damm im nahegelegenen Burgwalden. Das Wasser schoss den kleinen Anhauser Bach hinunter. Gegen 13 Uhr kam die Aufforderung zur Evakuierung.
In Diedorf scheint das Schlimmste vorüber
Die Wassermassen sind inzwischen im Norden des Landkreises angekommen, auch in anderen Regionen Bayerns hat sich die Lage über Nacht verschärft. In Diedorf scheint das Schlimmste vorüber, es wird aufgeräumt. Auf der anderen Seite des Bachs stehen Lkw des Technischen Hilfswerks. Die Einsatzkräfte haben eine Pumpe vor einer Tiefgarage positioniert, laut brummend pumpt sie das Wasser heraus – 5.000 Liter pro Minute. In ein paar Stunden werden sie eine dreckverkrustete Vespa aus der Garage ziehen.
Ansonsten ist es auffällig ruhig in Diedorf. Die Vögel singen, die Kirchglocken läuten aus der Ferne. „Grüß Gott“ steht am Eingang des Ortsteils Anhausen auf einem hölzernen Schild. Ein paar Hundert Meter entfernt hat die Schmutter die Felder überflossen. Sie ist normalerweise eher ein Bach, der bei Augsburg entspringt und in die Donau mündet, 96 Kilometer lang. Über die letzten Tage ist sie immer weiter angeschwollen, gespeist von vielen kleinen und größeren Bächen.
Anhausen liegt auf einem Hügel, unten ist auch hier der Anhauser Bach über die Ufer getreten, die Menschen wurden evakuiert. Die Anwohner der Bachstraße haben Teppiche zum Trocknen über ihre Eingangstore gehängt, schmeißen durchnässte Habseligkeiten auf Anhänger und Container.
Im einem der Häuser direkt am Bach wohnt die 85-jährige Frieda, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, mit ihren Katzen. Graue Haare, pinke Brille. In ihrem Garten verteilt liegt Feuerholz, das die Nachbarn zu großen Stapeln aufgeschichtet hatten. Sie sei Samstag schon vor fünf Uhr früh wach gewesen, habe gesehen, wie hoch der Bach gestiegen war und habe zunächst die Nachbarn geweckt. Kurz darauf habe ihr Sohn sie zu sich geholt. Er wohnt nicht weit weg, aber höher.
„Die Teppiche, die Tapeten, alles voll Schlamm. So etwas habe ich auch noch nicht gesehen.“ Während das Wasser die weiße Farbe außen am Haus bis zu einem Meter hoch dunkel gefärbt hat, stand es drinnen, ein paar Stufen höher, nur gut zehn Zentimeter hoch. Ihre Eltern haben das Haus gebaut, erklärt Frieda, sie selbst wohnt seit fast 30 Jahren dort, geboren wurde sie auf der anderen Straßenseite. Nur einmal, vor gut zwanzig Jahren habe es ein ähnliches Hochwasser gegeben. Von damals erzählen an diesem Tag viele in Diedorf. Auch damals sei ein Damm gebrochen.
Söders Besuch im Ort? Uninteressant
„Hauptsache, dir ist nichts passiert“, sagt ihre Tochter, die mit ihrem Freund zum Aufräumen gekommen ist. Den Rest, denn könne man putzen und waschen. Wie blicken sie in die Zukunft mit der Klimakrise, die dafür sorgt, dass solche Jahrhundert-Hochwasser im nächsten Jahrhundert deutliche häufiger auftreten werden? „Besser wird’s auf keinen Fall“, sagt die Tochter. Aber ob das mit dem CO2 immer alles so stimme, das wage er zu bezweifeln, meint ihr Freund.
Für den Besuch von Ministerpräsidenten Markus Söder, der gestern unter einem Regenschirm in Wanderschuhen durch die Ortschaft stiefelte, interessieren sie sich in Diedorf auch nicht so recht. Soll er halt, ist der Tenor.
Die Einsatzkräfte pumpen 5000 Liter pro Minute aus Kellern und Garagen – und ziehen eine Vespa aus dem Matsch
© Rebecca Stegmann
Auch beim Haus gegenüber wird geräumt. Helmut Sprengler verschnauft auf einem Stuhl und schaut auf seinen durchnässten Garten. Er sei gestern Vormittag, als die Feuerwehr vor der Tür stand, aus dem Badezimmerfenster geklettert. Vor dem Haus stand das Wasser schon zu hoch. Auf seinem Handy zeigt er Bilder: Die Sitzfläche der Gartenstühle sind unter der braunen Brühe verschwunden. Sein Haus ist etwas höher gebaut, das Wasser sei trotzdem gerade so über die Schwelle gelaufen. Der Boden ist nass. Über 50.000 Euro wird es wohl kosten, ihn zu erneuern, eventuell kommt auch noch die Dämmung dazu, schätzt Sprengler. Er sei hier aufgewachsen, habe schon einige Hochwasser miterlebt – es sei immer noch gut gegangen. „Und es wäre gestern auch gut gegangen, wäre nicht dieser blöde Damm gebrochen.“ Immerhin, scherzt er, hätten sie jetzt eine Walze für den Vorgarten bekommen. Die tonnenschwere Walze hat das Wasser vom benachbarten Bauernhof herbeigetragen, sie liegt jetzt halb in Sprenglers Hecke, halb auf dem, was wohl mal Straße war, bevor der Asphalt unter ihrem Gewicht einbrach.
Am frühen Nachmittag bricht die Sonne aus der Wolkendecke hervor. An der Hauptstraße in Diedorf wird schon wieder Eis verkauft. Die Evakuierungsanordnungen für Teile von Diedorf und anderen Ortschaften im Landkreis Augsburg gelten aber weiterhin, sagt eine Sprecherin des Landkreises. Für den Abend sind Gewitter angekündigt. „Es kann sein, dass die Wassermassen wiederkommen.“