Unser Autor ist mit BVB-Fanclubs im Bus nach London gefahren. Er fand Optimismus, Vorfreude – und eine eigentlich komplett verpönte Marke Bier.
Um kurz nach neun wird Klassiker zum ersten Mal am mächtigen Dortmunder Stadion angestimmt, vor dem sich die schwarz-gelbe Reisegesellschaft für ein Gruppenfoto aufgereiht hat: „Erste Runde Krankenschein/ dann die Oma tot/ Überstunden nehmen wir zur Not/ dann kommt die Kündigung/ scheißegal/ Borussia Dortmund international/ Europapokal, Europapokal…“ Es ist die ewige Hymne der vielen tausend Fans, die den BVB begleiten, wo auch immer er auf dem Kontinent antritt. Dieser Bus ist morgens um sieben in Paderborn gestartet, sammelt im Revier weitere Mitreisende ein und begibt sich auf den Weg nach London, wo das größte Spiel stattfinden wird, das der Klubfußball weltweit zu bieten hat.
Die Fanklubs Altenautal, Thüler Borussen, Heder Borussen und Schlossgeister, alle in Ostwestfalen beheimatet, haben zusammengefunden, um die Tour zu organisieren. Der Preis ist auffallend rund und darüber hinaus überraschend günstig: 239,09 Euro müssen die Mitfahrer berappen, darin ist die Fahrt, die Fähre, eine Übernachtung im Hotel, Proviant und jede Menge Bier enthalten.
Nachdem sich der BVB im Halbfinale gegen Paris Saint Germain durchgesetzt hatte und feststand, dass er beim Finale in Wembley dabei sein würde, setzte der Run auf die Karten ein. Die Preise für Flüge und Zugfahrten explodierten, da ist die gute, alte Bustour eine schöne Alternative.
Real Madrid gegen den BVB: Jede Serie geht mal zu Ende
Als der Bus Richtung Holland rollt, ist die Stimmung gelöst. Es geht um die Aussichten, schließlich wartet mit Real Madrid das größte Schwergewicht, das der europäische Fußball zu bieten hat. Real Madrid, die Besten? Die Mitfahrer in schwarz-gelb sehen das fundamental anders. Fußballfans dürfen das: Wenn es um ihre Leidenschaft geht und vor allem den Verein, an den sie ihr Herz verloren haben, sind sie hoffnungslos romantisch, gnadenlos optimistisch und vollkommen realitätsfern. Das ist ihr Privileg, das ist Teil ihrer Leidenschaft. Statistik und sonstiges Zahlenwerk? Total überschätzt. Trends, Serien oder der Nimbus der Unbesiegbarkeit? Na und!
Dass Real Madrid in der Champions League die Benchmark, die Übermannschaft, der Rekordgewinner, das Maß aller Dinge ist? Geschenkt. Allein in diesem noch immer jungen Jahrtausend sind die Königlichen in der Königsklasse sieben Mal ins Finale eingezogen. Und haben alle sieben Gipfeltreffen für sich entschieden.
Wembley again: Marc hat das Shirt von 2013 aufgepimpt.
Mit solch schnödem Faktengeschiebe stößt man hier im Bus auf taube Ohren. Jede Serie, so der Tenor, geht mal zu Ende. Und zwar in diesem Fall am Samstag zwischen 23 Uhr und Mitternacht im Wembley Stadion. Dass Borussia Dortmund bei den Wettanbietern als krasser Außenseiter gehandelt wird und Real Madrid als hoher Favorit, stört hier keinen Menschen. Würde man hier eine Umfrage starten, läge die Siegwahrscheinlichkeit des BVB bei exakt einhundert Prozent. Auch das dürfen Fans. „Die Geschichte“, sagt Marc, „fängt ja nicht erst hier im Fanbus an. Das dauert seit vielen Jahren.“ Jeder Mitreisende hat seine Abenteuer, seine Erlebnisse, über die er berichtet.
Dass ihre Borussia in Wembley auf Real Madrid trifft und nicht auf Bayern München, ist den Dortmunder Fans „extrem wichtig“. Diese Meinung von Michael teilen hier alle. Der Stachel der Niederlage gegen den zutiefst verachteten Klub aus dem Süden im Finale am 25. Mai 2013 – ebenfalls im Londoner Wembley Stadion – sitzt noch immer tief. „Wenn du gegen die verlierst“, so Michael, „ist das eine Katastrophe. Wenn du gegen Real verlierst, ist das normal.“
Gefragt wird, ob jeder Mitfahrer seinen Reisepass am Mann oder an der Frau hat. Mit Großbritannien ist es ja so eine Sache, seit die ohnehin schon spezielle Insel mit ihren speziellen Einwohnern die Einreisebestimmungen als Folge des Brexit erschwert hat und Menschen vom Festland nur noch mit gültigem Reisepass einreisen dürfen. In einem weitgehend reisefreien Europa nutzen die wenigsten dieses Dokument, und kamen in die Bedroullie, als sie sich bei der Planung ihres Trips nach Wembley auf die Suche machten und feststellten, dass die Gültigkeit des roten Heftchens abgelaufen war. BVB CL Finale Kommi
Also zeigte sich die Fußballstadt Dortmund flexibel und richtete einen Sonderservice der Bürgerdienste ein, der es hunderten Fans ermöglichte, den Trip nach London trotz der Kürze der Zeit einzurichten. Dabei erschienen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf den Ämtern der Reviermetropole in schwarz-gelbem Outfit, was ungewöhnliche Begegnungen zeitigte, wie Norbert Dahmen, Rechts- und Ordnungsdezernent der Stadt Dortmund bekundete: „Auf beiden Seiten der Schalter haben sich BVB-Fans gegenübergesessen.“
Schwarz gelber Strahl oder: Pinkelpause vor der Fähre
© Felix Meininghaus
Die Verwaltung verwandelte die Steilvorlage, Bürgernähe zu zeigen und bei den Bewohnern der Stadt Karmapunkte zu sammeln. Im Reisebus gibt es keine Probleme mit den Dokumenten. Dafür die Warnung von Matthias, Präsident des Fanklubs Altenautal: „Jungs, passt ein bisschen mit dem Biertrinken auf, auf den Fähren gibt es sporadische Alkoholkontrollen.“ Zwischenfrage von hinten links: „Wie viel muss man denn haben?“
Im Bus gibt es ausgerechnet Veltins
Im Angebot ist übrigens – man glaubt es kaum – Flaschenpils der Brauerei Veltins. Ausgerechnet der Sponsor des ungeliebten Revierrivalen aus Gelsenkirchen. Wie kann das sein? Ein Zufall. Vor dem Achtelfinale gegen Eindhoven kaufte jemand, der nicht genannt werden will, kistenweise Veltins. Warum, das bleibt unergründlich. Borussia kam weiter, das Pils des Feindes wurde zum Glücksbringer. „Never change a running system“, erläutert Michael mit breitem Grinsen.
„London Calling“ von den Clash in großer Lautstärke, die Stimmung im Bus ist prächtig. Schlager aus den 70ern funktionieren auch wunderbar. Dass der Busfahrer das Gefährt zunächst zum Tunnel und nicht zum Fähranleger lenkt und dass an der Fähre das Chaos tobt, trübt die gute Laune nicht nachhaltig. Schon eher die Debatten um die umstrittene Sponsorenpartnerschaft, die Borussia Dortmund mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall eingegangen ist. Er kenne „keinen aus unserer Szene, der diesen Deal geil findet“, sagt Marc. Ihn stört nicht nur das Commitment an sich, sondern auch das Timing der Bekanntgabe wenige Tage vor einem Finale, „bei dem wir alle unsere gesamte Energie darauf verwenden, den Henkelpott zu holen“. In dieser Phase den Fokus vom Wesentlichen zu nehmen, sei kontraproduktiv. Selten war der Begriff Nebenkriegsschauplatz treffender.
Michael, Frank, Torsten und Marc: Bereit zur Abfahrt
© Felix Meininghaus
Auf der Fähre sammelt sich die Busgemeinschaft und stärkt sich mit Fish and Ships und weiteren Bieren. Die Vorfreude auf das große Ereignis, auf das Spiel der Spiele, hält sie alle im Bann. Es gibt den Spielfilm, dass sich elf tapfere Borussen gegen übermächtige Madrilenen mit Haut und Haaren wehren und der eingewechselte Marco Reus kurz vor Schluss einen Konter verwandelt. Oder die Variante: In diesem Plot gerät der BVB mit 0:1 in Rückstand, ehe der eingewechselte Reus per Freistoß den Ausgleich besorgt und Mats Hummels in der Nachspielzeit einen Eckball mit dem Kopf verwandelt. Das alles erzählen sich die Fans im Bus und die Zuhörer nicken andächtig. Klingt märchenhaft, zu schön, um wahr zu sein? Ja sicher. Aber wie gesagt: Fußballfans dürfen das.