Am 9. Juni wählen die Europäer Europa. Oder doch die neue von der Leyen? Oder was nochmal genau? Unser Autor findet: Demokratie sollte weder so kompliziert noch so langweilig sein.
Was haben „die Cloud“ und das EU-Parlament gemeinsam? Genau. Alle haben davon gehört, aber niemand versteht es.
Nun beschäftige ich mich tagtäglich mit Auslandspolitik, habe mich ins absurde US-Wahlsystem gefuchst, weiß, warum Safran in Indien ein Politikum ist, warum Mandelas Partei in Südafrika eine Wahlklatsche droht und warum gerade niemand in Haiti das Sagen hat. Aber was die bald 720 Abgeordneten in Brüssel (und irgendwie auch in Straßburg) fabrizieren? (Fast) keine Ahnung. STERN PAID 22_24 AfD Durchmarsch 9:39
Ich meine das gar nicht despektierlich, aber wenn selbst ein Berufsbesserwisser wie ich am europäischen Wirrwarr verzweifelt – wie ergeht es dann dem „Durchschnittswähler“? Klar, wir beim stern geben uns große Mühe, Ihnen die großen Fragen zur Europawahl möglichst klar zu beantworten. Aber bei jeder dieser W-Fragen spielt zumindest mein überladenes Hirn eine Runde „Überfragt – Gejagt“. Die immergleiche H-Antwort: Hä?
Das Parlament für Europa – ein riesiges, undurchsichtiges Bürokratiemonster
Wann immer ich mit Menschen über die Europawahl spreche, winken die nach wenigen Sätzen ab. „Blickt doch eh keiner durch“, sagen sie dann, als wäre Resignation europäische Leitkultur. Auch ich habe mich dabei ertappt, wie ich den behördengrauen A4-Umschlag wochenlang buchstäblich immer weiter von mir weggeschoben habe. Europawahl, das hat den Charme einer Steuererklärung.
Natürlich sollte sich grundsätzlich jeder Europäer verpflichtet fühlen, sich zumindest oberflächlich über die Männer und Frauen zu informieren, die den kontinentalen Ton angeben wollen. Wäre das der Fall, gäbe es keine Protestwähler. Denn bei allein 35 wählbaren Parteien für Deutschland sollte jeder seinen politischen Würgreflex überwinden. Das Problem: Zu viele Menschen sind nicht nur überfragt, wen sie wählen sollen, sondern für was sie da überhaupt stimmen. Für Abgeordnete? Parteien? Fraktionen? Und was tun die da drüben eigentlich? Wie betrifft mich das? Schließlich ist Europa abgesehen vom Euro, offenen Grenzen, und einigen Slackline-affinen Erasmusstudenten für die allermeisten Europäer nicht sichtbar.
Allerdings gibt es für den ersten Eindruck keine zweite Chance. Und auf den ersten Blick ist die EU nun einmal dieses riesige, völlig undurchsichtige, Geld-fressende Bürokratiemonster. Und leider auch auf den zweiten. Europawahl Europa Karten Daten19.47
Demokratie sollte weder kompliziert, noch langweilig sein
Nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck aufkommt: Ich bin kein Europa-Gegner. Im Gegenteil. Ich bin für eine gemeinsame europäische Armee, für eine gemeinsame Seenotrettung und gegen möchtegern-patriotische Eigenbrötelei. Laut Wahlomat bin ich quasi kurz davor, mir einen blauen Hoodie überzustülpen, den Songtext von „Ode an die Freude“ übers Schlüsselbein tätowieren zu lassen (um danach zu bemerken, dass die Europahymne gar keinen Text hat) und zum Einschlafen zwölf gelbe Sterne zu zählen.
Wie kann es also sein, dass mich die Frage, ob einen Ozean entfernt ein Ende 70- oder ein Anfang 80-Jähriger im Weißen Haus sitzt, mehr bewegt als die reale Gefahr, dass der eigene Kontinent massiv nach rechts purzelt? Ein Grund: Die EU ist nicht nur kompliziert, es ist noch schlimmer. Sie ist langweilig. Und sich mit etwas zu beschäftigen, das so gar keine Endorphine freisetzt, dafür gibt es in der Regel Gehalt. Mit anderen Worten: Demokratie sollte weder so kompliziert, noch so langweilig sein.
Nicht, dass ich nicht versucht hätte, die Bildungslücke, ach was, den Bildungskrater zu stopfen. Wann immer mir ein ungleich geduldigerer Kollege die Bedeutung des 9. Juni klarmachen will, empfinde ich rückblickend Mitleid für meine Mutter und all die Male, wenn ich ihr ihren Drucker erklärt habe. Apropos. Für diesen Text habe ich sie gefragt, was das EU-Parlament denn ihrer Meinung nach macht. „Na, die kümmern sich da um Europa.“ Wäre das geklärt.
P.S.: Gehen Sie wählen, lieber Leser. Es ist wichtig – auch, wenn Sie vielleicht nicht ganz durchblicken.