Zum Eklat auf Sylt: stern-Chefredakteur: „Es gibt Menschen, denen es blendend geht und die trotzdem Rassisten sind“

Die Bilder aus Sylt haben in den letzten Tagen für viel Aufruhr gesorgt. Die aktuelle Ausgabe des stern geht der Frage nach: Wie rassistisch ist die deutsche Elite? Der Chefredakteur ordnet ein. 

Im Februar 1933, kurz nach ihrer Machtergreifung, trafen Adolf Hitler und Hermann Göring die Chefs der 24 größten Industrieunternehmen in Deutschland. Der französische Autor Éric Vuillard hat die Verquickung von Nazis und deutschem Geld in seinem Buch „Die Tagesordnung“ minutiös beschrieben: „Sie heißen BASF, Bayer, Agfa, Opel, I.G. Farben, Siemens, Allianz, Telefunken. (…) Sie sind hier, unter uns und zwischen uns. Sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Radiowecker, unsere Hausversicherungen und die Batterie in unserer Uhr.“ Göring rief bei diesem Treffen, die Herren Unternehmer sprächen ja stets von der freien Initiative der Wirtschaft. Nun hätten sie die freie Initiative, „strengen Sie sich an“ – beim Geldgeben, was die Herren Unternehmer eifrig taten.

Natürlich finanzieren gegenwärtig keine deutschen Unternehmen Nazis, es steht auch keine Machtergreifung bevor. Wir sollten die Gespenster der 1930er nicht dauernd beschwören. Aber Geld und ganz rechte Gesinnung schließen sich keineswegs aus.

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Deswegen scheinen jene die Geschichte vergessen zu haben, die von den Bildern aus Sylt überrascht sind. Dort feierten gut gekleidete und offenbar bestens situierte junge Menschen bei Aperol und Champagner, und sie sangen fröhlich: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.“ Manchmal wird getan, als erkläre sich der Aufstieg rechter Populisten nur aus ökonomischem Frust von Abgehängten. Behebe man diesen, etwa mit Geld, sei alles wieder gut. Klar gibt es etwa viele AfD-Wähler, die sich abgehängt fühlen, wirtschaftlich oder kulturell, oder die von Abstiegsängsten geplagt werden. 

Mit deren Sorgen muss sich die Politik auseinandersetzen. Aber es gibt auch Menschen, denen es blendend geht und die trotzdem Rassisten sind. Uns mag es wie ein Albtraum vorkommen, wenn wir auf die Bilder aus Sylt blicken. Für Menschen, die anders aussehen als Biodeutsche, ist dieser Albtraum aber Alltag, wie meine Kollegin Jacqueline Haddadian schreibt. Deswegen müssen wir uns diese Bilder anschauen, so abstoßend sie sind.

Nicht nur auf Sylt passiert Erschütterndes

Das Europäische Parlament ist nicht so machtlos, wie oft suggeriert wird. Es ist allerdings ein Ort, an dem manche Regeln nicht zu gelten scheinen – und wo bei Partys zwischen Menschen aus 27 EU-Mitgliedstaaten Grenzen verschwimmen. Das kann lustig sein, aber auch gefährlich, besonders wenn es um sexuelle Übergriffe geht. Unsere Brüsseler Korrespondentin Charlotte Wirth hat gemeinsam mit stern-Autor Nicolas Büchse diese Auswüchse des Parlamentsbetriebs recherchiert. Das erschüttert nicht unser Bild von Europa, aber es ist erschütternd, wie sich manche erklärte Europäer benehmen.

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Die Deutschen haben, eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, das „Nie wieder“ zur Staatsräson erhoben. Sie fühlen sich zugleich, ebenfalls eine historische Lehre, dem Grundsatz verpflichtet, dass im Krieg Regeln gelten sollten. Der Konflikt in Gaza – Israel von der Hamas aufgezwungen, doch in bedenklicher Härte geführt – bringt Deutschland in ein Dilemma. Bedeuten die beantragten Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs, dass ausgerechnet deutsche Polizisten einen israelischen Ministerpräsidenten festnehmen müssten? Um diese Abwägung beneide ich Kanzler Olaf Scholz nicht.