Der Papst hat jede Verbindung zum 21. Jahrhundert gekappt: „Zu viel Schwuchtelei“ gebe es in Priesterseminaren, sagte er nun Berichten zufolge. Kein Wunder, dass Hunderttausende aus dieser Kirche fliehen. Unser Autor gehört nicht dazu. Nur weiß er gar nicht, warum.
Er kann es nicht lassen. Eigentlich wollte Papst Franziskus bei einem Treffen mit italienischen Bischöfen Mitte Mai darüber beraten, ob bekennende Schwule Priester werden dürfen. Es hätte ein Stolperschritt in dieses Jahrhundert sein können. Stattdessen machte der Heilige Geist wieder einmal einen weiten Bogen um den den Stellvertreter Christi: „In den Seminaren gibt es schon zu viel Schwuchtelei“, zitiert die Tageszeitung „Corriere della Sera“ das Kirchenoberhaupt. Andere Medien ließen sich die Äußerung von Teilnehmern bestätigen. Papst entschuldigt sich nach Berichten über homophobe Äußerung. 16.15
Solch klerikaler Wortdurchfall schockt mich nun wirklich nicht mehr – was vermutlich das traurigste daran ist. Und trotzdem zahle ich bis heute brav meine Monatsrechnung an den Vatikan e.V., bin auf dem Papier ein „vollwertiger“ Katholik und glaube auch nicht, dass ich jemals aus der Kirche austreten werde. Was mich aber beizeiten – und gerade ist es wieder soweit – in den Wahnsinn treibt: Ich weiß nicht, was mich davon abhält. Eine Findungssuche.
Der Papst als Brückenbauer?
Das Wichtigste vorweg. In meiner Weltanschauung gibt es genauso wenig Platz für Zölibat, Schwulenhass und Kindesmissbrauch wie bei jedem Menschen, dessen moralischer Kompass auch nur halbwegs geeicht ist. Ich bin auch nicht so naiv zu glauben, dass die katholische Kirche zwar „veraltet“, aber mitsamt ihres aktuellen Bodenpersonals noch reformierbar sei. Der Katholizismus ist nun einmal keine über 2000 Jahre vollgemüllte Dachkammer, bei der eine gründliche Entrümpelung alle Probleme löst. Wenn eine Gestalt wie Papst Franziskus im Vatikan tatsächlich als Liberaler gilt, ist aller Hoffnung Abend. In der katholischen Kirche wird sich inzwischen häufiger gerechtfertigt als gebetet. Wer den Pontifex als erfolgreichen Brückenbauer sieht, der zählt auch Friedrich Merz zur Mittelschicht.
Meine Familie hat sich an meiner Statt für das Katholizismus-Komplettabo entschieden. Quasi einmal alles, bitte: Taufe, Kommunion, Firmung. Nur glaube ich nicht an Gott, habe es vielleicht auch nie getan. Zumindest nicht an den des Christentums – und auch nicht an den Gott nach den Lehren des fügen Sie hier eine beliebige Religion ein _________.
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Schulgottesdienst: beten, singen, Hostie kauen
Ich wurde nicht katholisch erzogen, höchstens katholisch geprägt. Schließlich habe ich neun Jahre ein erzbischöfliches Gymnasium in Köln besucht. Nicht, dass meine Eltern großen Wert darauf gelegt hätten, dass mein Segenspegel auf Stand bleibt. Die Schule hatte einfach einen besseren Ruf als ihre unterfinanzierten städtischen Pendants. Und so war mein erstes Tattoo ein Aschenkreuz auf der Stirn. Für mich hieß es jahrelang, jeden Donnerstag vor Unterrichtsbeginn: beten, singen, Hostie kauen. Beim Weintrinken um 8 Uhr morgens war allerdings Schluss mit Katholizismus. Dafür werde ich den Text von Chartstürmern wie „Laudato si“ oder „Wenn du singst, sing nicht allein“ nie wieder vergessen können. War einmal nicht Donnerstag, wurde trotzdem vor Unterrichtsbeginn artig gebetet.
Am Ende, da bin ich mir sicher, haben weniger Katholiken die Schule verlassen, als gekommen waren. Und trotzdem war es unser Schulpriester, der mir den Glauben zurückgegeben hat. Nicht an Gott, wohlgemerkt. Aber daran, dass es in dieser Kirche doch noch Geistliche gibt, die auf die Erde, statt in den Himmel schauen. Vielleicht hat die Kirche es diesem Mann zu verdanken, dass ich das Abo nicht längst gekündigt habe?
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„Weil ich nicht vor die Tür gehen muss, um mit Gott zu reden“
Im Grunde genommen bin ich ein Katholik, weil es dort, wo ich aufgewachsen bin, die Werkseinstellung ist. Ich wurde getauft, „weil man das eben so macht“. Zugegeben: Als Kind hat mir der Glaube einiges zurückgegeben. Die Erstkommunion war ein wahrer (Geld-)Segen. Damit hätte meine Glaubenslaufbahn auch enden können. Um die Firmung kam ich aber nicht herum. „Mach das doch für Oma, die freut sich“, sagte damals meine Mutter.
Vielleicht liegt es also an meiner Großmutter, dass ich bis heute dabei geblieben bin? Solange ich mich erinnern kann, hat die sonntags die Fernsehmesse geschaut. Doch selbst für diese genügsame Frau, der ihr Glauben von Kindesbeinen an ein Anker war, der sie 1945 auf ihrer Flucht aus Schlesien sogar vor „dem Russen“ beschützt hatte, war irgendwann Schluss. Als die Missbrauchsfälle ans Licht kamen, hatte sie genug von der interaktiven Sonntagssendung. An den Himmel hat sie weiter geglaubt – nur eben an dessen Verkäufer nicht mehr. Das Argument „Mach das doch für Oma“, zählt also nicht mehr.
An meinem Vater kann es auch nicht liegen. Einer meiner lebendigsten Erinnerungen ist, wie ich ihn einmal auf seinen Glauben angesprochen habe. Ich sehe die Szene vor Augen, als hätte ich sie auf Film aufgenommen.
„Papa, du glaubst doch an Gott, oder?“
„Ja.“
„Warum gehst du dann nie in die Kirche?“
„Weil ich nicht vor die Tür gehen muss, um mit Gott zu reden.“
Wenn es also weder an frühkindlicher, noch an pubertärer Prägung liegt: Warum zögere ich also dann noch auszutreten?
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„Kritische Masse“: wenn aus Aberglaube Glaube wird
Dass ich Katholik bin, weil mich die Bibel fesselt, ist ebenso ausgeschlossen.
Vor einer Weile habe ich die Dokumentation „Going Clear“ gesehen. Darin wird die Genesis nach Scientology-Gründer und Science-Fiction-Autor Ron Hubbard geschildert. Sie handelt vom galaktischen Herrscher Xenu, der vor 75 Millionen Jahren unzählige Menschen unter dem Vorwand einer „Einkommenssteuer-Inspektion“ vorgeladen, in Tiefschlaf versetzt und mit Raumschiffen am Fuße von Vulkanen auf der Erde abgesetzt hat. Die ließ Xenu dann mit Wasserstoffbomben sprengen.
Nun habe ich mich schon oft gefragt, wie man den christlichen Glauben einem völlig Ahnungslosen erklären würde. Neben dem rachsüchtigen, Kinder-mordenden Gott aus dem Alten Testament bekäme er auch von einem jungen Wanderprediger zu hören, der sich für den Sohn eben jenes Gottes hielt. „Ja, wirklich. Und wir haben überall auf der Welt riesige Gebäude hingepflanzt, in denen wir das Fleisch und das Blut von diesem vor 2000 Jahren gestorbenen Kerl essen und trinken „. So verrückt klingt der Alien-Imperator nicht mehr, oder?
Eigentlich ist die Gleichung also ziemlich einfach: Aus Aberglaube wird Glaube, sobald eine „kritische Masse“ erreicht ist – sprich: wenn sich ausreichend Anhänger finden, um ihren Glauben für andere potenzielle Mitglieder attraktiv zu machen.
Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, reizt mich der Gedanke nicht sonderlich.
Der Zweifel als Glaubensbeweis
Womöglich denke ich zu kompliziert. Vielleicht ist die Antwort ja rein praktischer Natur.
Es könnte sein, dass ich die Kirchensteuer einfach als eine Art Erlösungsversicherung sehe. Ich meine, sollten mir für den monatlichen Preis eines Netflix-Abos am Ende die Himmelspforten offen stehen, wäre das doch ein guter Deal?
Vielleicht ist es am Ende auch ganz unromantisch und es liegt daran, dass ich zu gemütlich bin. Nach einer teils monatelangen Wartezeit müsste ich persönlich vor dem Amtsgericht erscheinen. Online fällt man nicht vom Glauben ab.
Oder es liegt am Heiraten? Wobei, nein. Nicht nur, dass meine Freundin als Heidin, pardon als Protestantin, längst ausgetreten und damit eine kirchliche Trauung ohnehin vom Altar ist. Ich habe und hatte einfach nie das fromme Bedürfnis in einer Kirche zu heiraten. Auch für meine letzte Etappe wünsche ich mir keinen geistlichen Beistand. Wenn ich eines Tages das Zeitliche segne, ist das eben so. Ich glaube nicht an Schrödingers Sarg: Wenn ich tot bin, bin ich tot. Da hilft auch kein Beten. Ich glaube an das Nichts danach.
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Auch für Aristoteles war Gott logisch. Dessen Theorie des „unbewegten Bewegers“ stibitze sich übrigens der katholische Star-Philosoph Thomas von Aquin, um aufzuzeigen, dass Gott und Vernunft keine Widersprüche sind. Der Gedanke: Irgendetwas muss ja die Party ins Rollen gebracht haben. Mit dem Gedanken kann ich mich durchaus anfreunden. Nur ist der Weg von der Annahme, dass irgendwer oder irgendetwas den Startschuss gegeben hat, bis hin zu einer Organisation, die ihren Angestellten Sex verbietet, ein ziemlich langer.
Natürlich ist das aller hier nur halb ernst gemeint. Aber ich spüre ihn ja wirklich, den Zweifel. Ich kann es nicht erklären. Ist vielleicht das die Antwort? Ist nicht dieser Zweifel auch eine Art von Glauben? Wie gut, dass in der Religion Wissen eine zu vernachlässigende Komponente ist. Vielleicht ist für mich also doch nicht alle Hoffnung verloren. Ich bleibe vorerst am Ball.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich im Juli 2022 und wurde aktualisiert.