Musik-Dokumentation: Punk’s not dead – 1977 ist überall

Die vierteilige Reihe „Millennial Punk – Eine Subkultur in Zeiten der Digitalisierung“ erzählt die Geschichte einer Jugendbewegung, deren Ursprung fast ein halbes Jahrhundert zurückliegt – und die heute immer noch quicklebendig ist.

Ramones, Sex Pistols, The Clash, die Dead Kennedys und Black Flag, Razors, Slime und Hardcore. Stachelige Haare, dann Iros, Rasierklingen, Buttons und Sicherheitsnadeln – das plakative Punk-Narrativ aus dem letzten Jahrhundert ist abgetragen wie ein altes H&M-T-Shirt.

Das ist die eine Perspektive. Und die andere? 

Da ist Punk als solches, als subversive Jugendbewegung, als energetische Szene, als Lebensperspektive, als Aussage und Einstellung ein unverrückbarer Bestandteil, nicht nur der Popkultur, sondern der Gesellschaft als solches. „Millennial Punk“ haben Nico Hamm (Produzent), Flo Wildemann (Producer), Diana Ringelsiep und Felix Bundschuh (Drehbuch und Regie) ihre Doku-Reihe genannt. In vier Teilen à 45 Minuten erzählen sie die Geschichte, so der Untertitel, einer „Subkultur in Zeiten der Digitalisierung„.

Der Bommerlunder wird eiskalt serviert: Die Punk-Veteranen Die Toten Hosen, gegründet 1982
© SWR/Bastian Bochinski

Punkrock, diese analoge Urviech

Ein Claim, der etwas die Irre führt. Natürlich ist es auch ein Aspekt, wie Punkrock, dieses analoge Urviech, das Fanzines, Sprühschablonen und Bierdeckel-Buttons hervorgebracht hat, den medialen Wechsel in die Postmoderne vollzogen hat. Da geht es um Napster und frühes Internet, um Nokia-Knochen und „Snake“-Zocken, um „Crazy Frog“ und teure Klingeltöne, all das also, was auch der Rest der Welt durchmachen musste. In Dokus über die Band Echt, über den Sender VIVA! und demnächst über die Hamburger Schule konnte und kann man sich jüngst ein ebenso informatives wie kurzweiliges Bild davon machen.

Punk als solches greift jedoch ebenso in andere Gesellschaftsbereiche und das mit einem Schwung, der insbesondere diesseits des Millenniums noch einmal so richtig Fahrt aufgenommen hat. War Punk im vergangenen Jahrtausend in New Wave, NDW und New Romantics übergegangen und hatte sich später – aus exklusiver Sicht des Normalos jedenfalls – zu einer Fußgängerzonen-Plage mit Ratte auf der Schulter und „Haste mal ’ne Mark?“ in Dauerschleife entwickelt, ging die Bewegung abseits von Mainstream immer weiter. 

Punk ist ein ausgesprochenes Zukunftsmodell

In autonomen Zentren wurden Konzerte veranstaltet, es wurden Demos organisiert, ein unaufhörlicher Kampf gegen Rechts ausgefochten. All das unter dem Aspekt, dass Punk eben nicht allein 1-2-3-4! und Pogo und „No Future“ ist, sondern im Gegenteil, ein ausgesprochenes Zukunftsmodell, gerade in Zeiten, da die Gefahr von Rechts nicht allein vom Skinhead aus dem Nachbarhaus ausgeht, sondern von einer Partei, die sich anno 2024 in Teilen der Republik jenseits der 30-Prozent-Grenze bewegt.

STERN PAID 18_24 Der alte Punk 20.00

Wie Punk das alles überstanden hat, welche Rolle dieser Spirit heute hat und welche Ausformungen er annimmt, das erzählt Nico Hamms Doku in vier thematisch unterteilten Episoden. Der erste Teil zeigt, wie Punk sich ins neue Jahrtausend rettete, im zweiten geht es um die politische Seite. Wie hat sich 9/11 auf das subkulturelle Umfeld und die Musik ausgewirkt? Und warum ist Punk eigentlich immer noch überwiegend weiß? In der dritten Episode dreht es sich um die titelgebende Digitalisierung, um illegale Downloads, Printkrise und Soziale Medien, den Abschluss bildet ein Blick aufs Hier und Heute, da nicht mehr gesamtgesellschaftliche Missstände im Fokus stehen, sondern Sexismus, Diskriminierung und Queer-Feindlichkeit, die auch in den eigenen Reihen stattfinden.

Bev und Katja gründeten 2014 die Band Berlin Blackouts und haben sich seither europaweit in der Punkszene einen Namen gemacht
© SWR/Felix Bundschuh

„Millennial Punk“ ist ein hochtouriges Durcheinander

Klingt nach einer Menge Holz, nach einigem an Theorie, viel Historie und Retrospektive. Das gibt es alles auch, dabei aber so verpackt wie ein richtiger guter Punk-Sampler – als hochtouriges Durcheinander, das so eng getaktet ist, dass man etwas verpasst, wenn man nur blinzelt. 69 Protagonisten und Protagonistinnen von Bands wie WIZO und Broilers, Terrorgruppe und Die Toten Hosen, Akne Kid Joe, Antilopen Gang und The Toten Crackhuren im Kofferraum erzählen ebenso eindrucksvoll von ihrer Geschichte, wie Ox-Fanzine-Chef Joachim Hiller, NOFXs Fat Mike oder Horst und Birgit Lohmeyer, deren „Jamel rockt den Förster“-Festival sich seit 2007 zur Trutzburg gegen Nazis entwickelt hat.

Ein schöner Kniff, dass weitgehend auf eine Off-Erzählung verzichtet wird. Die „Talking Heads“, die Künstlerinnen und  und Künstler, bestimmen den Ton, den Fortgang der Dinge, eine Storyline, in der Nostalgie und Punkrock-Romantik ebenso ihren Platz finden wie politische Stellungnahme, Erlebnisberichte und Kontroverses. Wie war das noch mit „Punk’s Not Dead“ als schnödem T-Shirt-Slogan? Mumpitz, Punk ist quicklebendig, facettenreich, unterhaltsam und auch widersprüchlich – „Millennial Punk“ stellt das eindrucksvoll unter Beweis.

„Millennial Punk – Eine Subkultur in Zeiten der Digitalisierung“
4 Folgen à 45 Minuten
ab 28. Mai in der ARD Mediathek